Wie die EU eine Flüchtlingsroute aus der Hand gibt
Während der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Gasstreit ums Mittelmeer derzeit einen sanfteren Kurs fährt und gegenüber der deutschen Kanzlerin Angela Merkel „faire und konstruktive Gespräche“ in Aussicht stellt, konzentriert er sich auf Libyen. Ein Land, in dem seit Jahren Bürgerkrieg herrscht, ein Land, in dem sein Einfluss wächst und jener der EU sinkt. In real-, migrations- und wirtschaftspolitischen Fragen.
Mit dem angebotenen Rücktritt des Premiers der international anerkannten „Einheitsregierung“, Fayez as-Sarraj, könnte Erdoğan seinem Ziel noch näherkommen.
Warum ist Sarraj zurückgetreten?
„Sarraj hat versucht, mit dieser Ankündigung Druck herauszunehmen. Seit Wochen gibt es Demonstrationen aus dem breiten Bürgertum, Strom- und Wasserversorgung fallen aus, die Bevölkerung hat die Krise satt“, sagt der renommierte Libyen-Experte Wolfgang Pusztai zum KURIER. Allerdings hätten auch die mächtigen Misrata-Milizen (eines der militärisch stärksten Bollwerke in Libyen) einen großen Einfluss auf die Rücktrittsankündigung gehabt. „Sarraj hat in den vergangenen Wochen Männer aus den kriminellsten Milizen im Bereich Tripolis in hohe Ämter gehievt“, das war den Misrata-Milizen zu viel“, sagt Pusztai.
Wer profitiert von der derzeitigen Situation?
Das hängt davon ab, wer Sarraj nachfolgt, beziehungsweise ob Sarraj tatsächlich zurücktritt. Dennoch sieht es ganz so aus, dass der Nachfolger der Türkei treu ergeben sein wird. Sowohl die Misrata-Milizen, als auch die Muslimbruderschaft gelten gegenüber Ankara als absolut loyal.
Das würde der Türkei die Möglichkeit geben, noch stärker bei den Friedensverhandlungen mit Russland, das die Gegenregierung um General Khalifa Haftar unterstützt, mitzumischen. Tatsächlich verhandeln Ankara und Moskau gerade ein Abkommen, das tatsächlich Aussicht auf Erfolg hat. Wie in Syrien wollen beide Länder an einer Waffenstillstandslinie gemeinsam patrouillieren.
Welche Rolle spielt die Europäische Union?
„Wenn das aber passiert, dann hat Europa ein massives Problem“, sagt Pusztai.
Noch Anfang des Jahres hatte Deutschland alle Konfliktparteien in Berlin an einem Tisch versammelt, bis auf Lippenbekenntnisse war jedoch nichts herausgekommen, was den Konflikt irgendwie befriedet hätte. Während Frankreich noch die Truppen Haftars unterstützt, steht Italien auf der Seite der „Einheitsregierung“.
Doch der Einfluss der europäischen Länder schwindet. Zwar hat die UNO vor einigen Tagen mit Vorgesprächen bezüglich eines EU-Friedenseinsatzes begonnen, doch derzeit scheinen Russland und die Türkei Nägel mit Köpfen zu machen.
Wie ist die Migrationslage in Libyen?
Nach wie vor harren Tausende Migranten und Flüchtlinge unter unmenschlichen Bedingungen aus, gleichzeitig überwacht die libysche Küstenwache die Seegrenze nicht mehr so genau wie früher.
Seit die „Einheitsregierung“ die gesamte westliche Küste Libyens wieder kontrolliert, sind Schlepper verstärkt zurückgekommen. Auch wenn ein großer Teil der 20.000 Menschen, die heuer bereits in Italien angekommen sind, aus Tunesien kommt, ist der Türkei bewusst, dass die Kontrolle der mittleren Mittelmeerroute ein probates Druckmittel gegen die EU ist. „Und davon werden sie auch Gebrauch machen“, sagt Pusztai.
Libyen verfügt über reiche Erdölvorkommen. Was geschieht damit?
Nach einer monatelangen Blockade hat sich Haftar vor einigen Tagen dazu bereit erklärt, die Ölhäfen wieder zu öffnen. Vor allem Frankreich, Italien und auch die OMV beziehen einen Teil ihres Öls aus Libyen, doch dürfte vor allem die Türkei in naher Zukunft ihren Anteil erhöhen. Zuungunsten der Europäer.
Die staatliche „National Oil Corporation“ hat türkische Unternehmen bereits dazu eingeladen, ihr Engagement in Libyen auszuweiten. Schafft es Ankara tatsächlich, erfolgreich einen Waffenstillstand zu vermitteln, wird diese neue wirtschaftliche Vormachtstellung einzementiert.
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