Tausende syrische Kämpfer setzte er in Schiffe und Flugzeuge in Richtung Tripolis, damit sie für ein bescheidenes Gehalt gegen die Truppen von General Khalifa Haftar kämpfen. Und das tun sie mit Erfolg. Die Belagerung von Tripolis ist zusammengebrochen, Erdogans Söldnerheere – im Verbund mit dschihadistischen Milizen – auf dem Vormarsch. Sollten sie die Stadt Sirte an der Mittelmeerküste einnehmen, gehörten ihnen bereits 600 Kilometer Seegrenze.
Erdogans Einfluss wird an diesen Gestaden groß sein – so groß, wie es der der EU seit dem Sturz Gaddafis nicht war. Der türkische Präsident kann dadurch den Druck auf Brüssel weiterhin erhöhen – zumal die EU-Mitgliedsstaaten in der Libyen-Causa gespalten sind. Italien hat in den vergangenen Jahren Hunderte Millionen in Richtung Tripolis überwiesen, damit die Küstenwache ablegende Boote abfange. Ob Rom das für Ankara ebenfalls tun wird, ist fraglich.
Deutschland, das sich im Jänner als großer Vermittler im Libyen-Konflikt gerieren wollte, hat derzeit nichts zu sagen. Alle Konfliktparteien – auch Erdogan – hatten zugestimmt, das Waffenembargo gegen Libyen einzuhalten. Die EU-Mittelmeermission "Irini" wurde ins Leben gerufen, um dieses Embargo zu überwachen.
Wie sehr dies Erdogan imponiert, zeigte sich, als vor wenigen Wochen ein türkisches Kriegsschiff jeden Anhalteversuch einer französischen Fregatte ignorierte, sie angeblich sogar anvisierte – und weiter in Richtung Libyen fuhr. Mutmaßlich mit Waffen und frischen Söldnern. Aus der EU kamen schwache Protestnoten und ein französischer Hilferuf an die NATO, die Türkei möge das Waffenembargo achten. Der Vorfall wird jetzt untersucht. Konsequenzen sind keine zu erwarten.
Faktor Energieversorgung
Konsequenzen für die europäische Energiewirtschaft wird die türkische Expansion in Libyen sehr wohl haben: "Über die Türkei laufen wichtige Gaspipelines aus Zentralasien und Russland. Nun kontrolliert die Türkei auch die Erdgaspipeline von Libyen nach Sizilien", sagt der renommierte Libyen-Experte Wolfgang Pusztai im Interview mit dem KURIER. Vor allem aber werde die staatliche türkische Erdölgesellschaft ihren Einfluss in Libyen ausbauen, "und das wird mit Sicherheit mittelfristig zu Ungunsten europäischer Firmen wie der italienischen ENI oder auch der österreichischen OMV ausgehen". Im Jahr 2019 bezog die EU knapp 6,5 Prozent ihres Erdöls aus Libyen – allerdings standen damals einige Werke still.
Während Erdogan seinen Einfluss im Westen des Landes festigt, scheinen die Haftar-Unterstützer – vor allem Russland, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate – darauf bedacht zu sein, wenigstens den Osten des Landes zu sichern. Ernsthafte Hoffnungen, dass Haftar Tripolis doch noch einnehmen könnte, macht sich derzeit niemand aus diesem Lager. Es geht eher darum, die eigenen Hochburgen im Osten (Sirte, Jufra, Tobruk) und den darin eingebetteten Erdöl- und Erdgasgürtel zu halten.
Erdogans neues Druckmittel
Neben dem ökonomischem, hat Erdogan auch ein menschliches Druckmittel: "Was strategisch von immanenter Bedeutung sein wird, ist, dass nun nicht mehr die Migrationsroute aus der Türkei aus dem Osten des Mittelmeeres nach Europa, sondern de facto auch die Migrationsroute aus dem zentralen Mittelmeer nach Europa unter türkischer Kontrolle steht", erklärt Pustzai und meint, dass Erdogan diese Macht nun nutzen könne, um "die EU zu erpressen". Schlepper werden seit dem militärischen Eingriff der Türkei wieder aktiver - was wohl im Sinne Erdogans sein dürfte. Pustzai konstatiert: "Der türkische Präsident Erdogan ist strategisch sehr geschickt vorgegangen."
Die Flüchtlingslager an der libyschen Küste sind gefüllt. Mit Menschen, die geschlagen, gefoltert und ausgebeutet werden – und die sich vermutlich gerade nicht mit dem Gedanken beschäftigen, Spielfiguren Erdogans zu sein. Und es dennoch sind.
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