KURIER-Reporter in der Ukraine: Entschlossenheit nach Raketenbeschuss
„Plötzlich hat mich ein Knall aus dem Schlaf gerissen, 40 Sekunden später der nächste“, sagt Gena. Er wohnt im siebenten Stock eines Hauses in Mykolaijw, etwa 26 Kilometer von der Front in Cherson entfernt. Die erste Rakete schlug in der Nacht auf Sonntag im Innenhof des Wohnblocks ein, die zweite im Obergeschoß des gegenüberliegenden Hauses. „Dass niemand getötet wurde, ist ein Wunder“, sagt er, während er aus dem zerborstenen Fensterrahmen in den Innenhof blickt.
Zerstörung in Mykolajiw
Von dort ist Hämmern zu hören, eine Bohrmaschine kreischt auf. Männer tragen Sperrholzplatten in die schmalen Hausgänge, andere bringen sie dort an, wo am Samstag noch Fenster waren. „Wir bauen alles wieder auf“, sagt Gena. Seine Frau schrubbt mit entschlossener Miene den Fußboden, verbietet trotz der Zerstörung rund herum das Tragen von Schuhen in der beinahe unversehrten Wohnung.
Ungenaue Munition
Immer wieder bombardieren die russischen Streitkräfte zivile Gebäude mit ungenauer Munition – am Samstag waren es S-300-Luftabwehrraketen, die sie seit einiger Zeit auch gegen Bodenziele einsetzen. „Sie haben schon einmal ganz in die Nähe geschossen, aber nichts getroffen. Hier gibt es kein militärisches Ziel, kein Kraftwerk. Natürlich werden die Russen wieder behaupten, sie wollten eigentlich eine Kaserne beschießen. Eine Lüge“, sagt einer der Arbeiter.
Immer wieder fällt der Strom aus, auch das Trinkwasser ist knapp: Die einzige Zuleitung wurde bereits vor Monaten von den Russen zerstört. „Sie wollen eben nicht nur unsere Infrastruktur vernichten, sondern uns terrorisieren“, sagt Ann, eine Lehrerin aus Mykolaijw. Im August traf ein Marschflugkörper die einzige Universität der knapp 500.000-Einwohner-Stadt. Bis vor zwei Jahren hatte Ann dort noch studiert.
Zwischen den Trümmern liegen Aktenmappen mit Arbeiten der Mykolajiwer Studenten, das oberste Geschoß des Eingangsbereichs ist völlig zerstört. Ein Betrieb ist nicht mehr möglich. „Wir sammeln derzeit Geld für den Wiederaufbau“, sagt Ann.
Als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine begann, habe sie noch Angst gehabt, mittlerweile verspüre sie hauptsächlich Wut. „Deshalb werde ich auch nicht weggehen. Wir sind entschlossener denn je.“
Entspannung in Odessa
„Mykolaijw ist unser Schutzwall“, sagt der Besitzer einer Trattoria in Odessa zum KURIER. Die Hafenstadt, die etwa zwei Fahrstunden östlich liegt, bietet ein völlig anderes Bild. An der Hafenpromenade flanieren Familien, werfen Fischer ihre Angelruten aus. Ein Paar steht am Geländer, blickt auf das Schwarze Meer. „Wir haben uns wochenlang nicht gesehen“, sagt die Frau. „Mein Mann ist Soldat, hier können wir ungestört unseren Urlaub verbringen.“
Auch auf den Pflasterstein-Boulevards Odessas nimmt das unbeschwerte Leben seinen Lauf, Modeboutiquen wie Restaurants haben geöffnet, hin und wieder erinnern Wegweiser zum nächsten Schutzbunker, dass auch hier immer wieder Drohnen oder Raketen einschlagen.
Anders die Situation in Mykolaijw: Einige Häuser am Straßenrand sind vernagelt – verlassen von ihren früheren Besitzern. Seit März ist die Stadt an vorderster Front im Süden. Zeitweise standen die russischen Truppen direkt vor den Toren. Wer geblieben ist, lässt sich auch vom Beschuss nicht einschüchtern: „Das ist ja nur, was die Russen wollen“, sagt eine Frau, die Schweineleber und Kalbsinnereien auf der Straße verkauft. Man sei weit entfernt davon, zu verhungern, doch die Versorgung sei schwieriger geworden, meint sie.
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