Von einem Verlust unserer Identität würde ich nicht sprechen – aber es findet eine Veränderung statt, die nicht ausschließlich auf Zuwanderung zurückzuführen ist. Auch Globalisierung und soziale Medien haben unsere Identität verändert. Wir brauchen aber jedenfalls ein inklusiveres Verständnis unserer kollektiven Identität, um Eingewanderte einzubeziehen.
Ist Migration oder gescheiterte Integration der Grund für diese Angst?
Ich glaube nicht, dass Integration in Deutschland oder Österreich gescheitert ist. Wir machen diese These an Einzelfällen fest, etwa an der Messerattacke eines Syrers in Solingen im Sommer. Solche Fälle bleiben im Kopf hängen. Aber das ist nur eine Facette, denken Sie an die Zehntausenden syrischen Ärzte, die in Deutschland arbeiten, was es für uns bedeute, wenn sie jetzt weggingen. Wir brauchen Migration aufgrund unseres demografischen Wandels.
Aus der Gastarbeitermigration in den 1960er-Jahren haben wir gelernt, dass man nicht davon ausgehen darf, dass Menschen in ihre Heimat zurückkehren, wenn sie hier Jahre verbracht und Kinder großgezogen haben, und dass es sofort Integrationsmaßnahmen braucht. Damals wurde toleriert, dass viele Gastarbeiter nicht Deutsch lernten – ein Fehler. Das haben wir bei der Flüchtlingskrise 2015 in Stück weit besser gemacht.
Was unbedingt angegangen werden muss: Uns fehlen in bestimmten Bereichen Arbeitskräfte, gleichzeitig leben hier Menschen, die nicht arbeiten dürfen. Die Integration von Fachkräften ist eine andere als von Menschen mit Fluchterfahrung, das ist klar. Aber auch Arbeit ist eine Integrationsmaßnahme.
Es ist illusorisch, zu glauben, dass wir Migration in Zukunft derart beschränken, dass wir nur ausgesuchte Fachkräfte aufnehmen. Wir werden uns nicht die Rosinen rauspicken können. Wir können auch nicht nur aus humanitären Gründen Menschen aufnehmen. Jede Gesellschaft hat das Recht, ein bisschen zu selektieren.
Wir glauben, jeder will nach Europa. Stimmt das?
Auch das ist ein falsches Bild und empirisch widerlegt. Wir haben aktuell große Migrationsbewegungen in den arabischen Golfregionen und innerhalb von Afrika, sie sind weitaus größer als Richtung Europa. Der Eindruck stammt aus den Jahren des Arabischen Frühlings, als die Bewegung nach Europa sehr groß war, nachdem unsere "Gatekeeper" weggebrochen sind.
Stichwort "Gatekeeper": Inwiefern ist Europa Ländern wie der Türkei oder den Maghreb-Staaten und internationalen Konflikten und Entwicklungen ausgeliefert?
Natürlich sind wir ein Stück weit abhängig. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist nach dem Zusammenbruch des Assad-Regimes gleich in die Türkei gefahren. Aber wir sind ihnen nicht ausgeliefert, wir haben Hebel wie Grenzschutz und Transferzahlungen. Ist das human? Nein, wir werfen unsere Werte über Bord, wenn wir von der Türkei verlangen, dass sie gegen die Genfer Flüchtlingskonvention agiert, und verlangen, dass sie Flüchtlinge an ihrer Bewegungsfreiheit hindert.
Oft heißt es, es gehöre vor allem das Regelwerk verändert, etwa die Europäische Menschenrechtskonvention. Sehen Sie das auch so?
Ein geregelter humanitärer Ansatz ist wichtig. Aber Migrationspolitik ist nicht nur eine Frage der Menschenrechte. Ich bin der Überzeugung, wir müssen entwicklungspolitische Aspekte mehr berücksichtigen. Wie organisieren wir internationalen Handel, damit wir in bestimmten Regionen keine Fluchtbewegungen auslösen oder zu Abwanderung beitragen? Wie setzen wir unsere Interessen in der Welt um? Fluchtbewegungen aus Afghanistan, dem Irak und teilweise Syrien haben wir mitverschuldet. Dafür brauchen wir aber mehr multilaterale Kooperation. Selbst in der EU kommt es zu häufig zu Alleingängen.
Ein Beispiel wäre das Türkiye Compact der UNO: Das sieht vor, dass die USA, Kanada und die EU der Türkei mit niedrigen Zöllen auf Agrarprodukte entgegengekommen – unter der Bedingung, dass Ankara Jobs für 200.000 Flüchtlinge aus Syrien schafft. Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir Migration nicht immer mit Armut in Verbindung bringen. Wir wissen, dass Demokratie, Wohlstand und Wachstum Migration nicht verhindern. Das sehen wir etwa an der Abwanderung deutscher Staatsbürger aus Deutschland.
Was können wir von Migration lernen?
Das lässt sich mit einem Blick in die europäische Geschichte ab 1960 beantworten. Deutschland und Österreich haben ihren Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg, ihren Wohlstand und die prosperierende Industrie Arbeitsmigranten zu verdanken. Heute ist unser Leben vielfältiger, denken Sie an die Gastronomie und kulturellen Kompetenzen, die wir erworben haben. Migration ist ein Faktum, wir dürfen sie weder dämonisieren noch idealisieren.
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