Libanon: Ein Land am Rande des Abgrunds

Libanon: Ein Land am Rande des Abgrunds
Die heftige Explosion am Hafen von Beirut verschlimmert die ohnehin verzweifelte Situation eines Landes, das einmal als „Schweiz des Nahen Ostens“ galt.

Hans Bederski saß mit seiner Familie zusammen, als sieben Kilometer entfernt die Hölle losbrach. Die enorme Explosion im Hafen von Beirut hat er deutlich gespürt: „Es war wie ein Erdbeben. So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagt der Deutsche, der in Beirut für World Vision arbeitet, zum KURIER. Tausende Menschen verletzt, Hunderte getötet. Die Krankenhäuser weisen Patienten ab, da ihre Kapazitäten erschöpft sind. Durch die Explosion sind mehr als 300.000 Libanesen obdachlos.

Hunderte Tote befürchtet: Beirut am Tag nach den Explosionen

Massiver Kursverfall

„Dieses Land ist verflucht“, sagte ein junger Libanese knapp nach der Explosion. Viele seiner Landsleute dürften diesen Gedanken teilen – der Libanon als „Schweiz des Nahen Ostens“ ist seit Jahrzehnten nur noch ein romantischer Begriff aus alten Zeiten. Seit dem verheerenden, fünfzehn Jahre andauernden Bürgerkrieg (1975 bis 1990) hat sich das Land nicht mehr erholt und stürzt immer tiefer in eine Wirtschaftskrise, die durch das Coronavirus noch massiv verstärkt wird.

Die Währung verfällt. Pensionisten, die ursprünglich umgerechnet von 680 Euro im Monat lebten, haben durch den Kursverfall noch knapp 170 Euro zur Verfügung. Auch jüngere Menschen gehen in ihrer Not zum Tauschhandel über. Mehr als ein Drittel der unter 30-Jährigen ist arbeitslos. Zu all den wirtschaftlichen und politischen Problemen kommt die massive Flüchtlingskrise: Im Libanon – nur einen Quadratkilometer größer als Kärnten – befinden sich 1,3 Millionen syrische Flüchtlinge.

Nur in den Nobelvierteln geht das unbeschwerte Leben weiter – so, wie es in Beirut immer war. Die Mehrheit aber begehrt auf: Wenige Stunden vor der Explosion hatten Demonstranten das Energieministerium angegriffen – aus Wut, weil es gerade noch zwei Stunden Strom am Tag gab. Jetzt gibt es nicht einmal mehr die, das zentrale Elektrizitätswerk ist zerstört.

Da der Hafen von der Explosion zerstört wurde, ist die Versorgung mit Gütern noch schwieriger als zuvor. In Syrien herrscht Bürgerkrieg, mit Israel befindet sich das Land im Kriegszustand – eine Versorgung ist jetzt nur noch über den Luftweg möglich.

Enttäuschte Hoffnungen

Dabei wurde das Kabinett unter Premier Hassan Diab erst Anfang des Jahres geformt, um die Missstände im System zu bekämpfen. Die alte Regierung war im späten Herbst unter dem Druck massiver Proteste zurückgetreten. „Das Wohnen wird immer teurer. Ich will, dass eine neue Regierung kommt, in der die Politiker unbelastet von Korruption sind“, sagte damals einer der Demonstranten in Beirut zum KURIER. Er sollte bald enttäuscht werden.

Es war ein kurzer Hoffnungsschimmer der Demonstranten, die vor allem anfangs gemeinsam auf die Straße gegangen waren. In dem religiös fragmentierten Land ein absolutes Novum. Rund 30 Prozent der Bevölkerung werden von den Sunniten gestellt, ebenso viel wie die Schiiten, die vor allem den südlichen Teil des Landes dominieren. Christen sind 33 Prozent. Nach dem Bürgerkrieg einigte sich der Libanon auf ein Proporzsystem nach Religion, um den Frieden im Land zu sichern: Der Präsident muss Christ, der Premier Sunnit und der Parlamentspräsident Schiit sein.

Zwar stabilisierte dieser Schritt den Libanon damals tatsächlich, jedoch hielten bald Korruption und Blockadepolitik Einzug. Darlehen anderer Staaten und Gemeinschaften waren an Reformen gebunden, die nie zustande kamen. Zu uneins war die Regierung.

Keine Einigkeit

Ein hochrangiges Mitglied der schiitischen Amal-Bewegung verglich gegenüber dem KURIER die politische Situation mit dem Verkehrschaos in Beirut: „Jeder fährt, wie er will. Es gibt viele Querstraßen, man weiß nie, aus welcher Richtung jemand kommt.“ Die jetzige Regierung hat mit dem Proporzsystem gebrochen, stützt sich vor allem auf die schiitischen Parteien Amal und Hisbollah sowie die christliche Partei „Freie Patriotische Bewegung“.

Im Schatten des Coronavirus sind ihr noch keine großen Würfe gelungen, die Proteste flammen wieder auf. Erst am Montag verkündete der Außenminister seinen Rücktritt – er diene dem Libanon, die Regierung tue das nicht.

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