Mit Sorge beobachteten auch die EU-Staats- und -Regierungschefs beim Gipfel in Brüssel gestern diese Entwicklung. Sie könnte sich bald in Libyen, Tunesien, Pakistan, Bangladesch und Ägypten fortsetzen. Allesamt Länder, die bisher mindestens ein Viertel ihrer Getreideimporte aus der Ukraine bekamen – und jetzt vergeblich warten.
Der Grund: Russland blockiert seit Beginn der Invasion in der Ukraine vor drei Monaten nahezu alle ukrainischen Häfen. Den größten und für die Getreideexporte wichtigsten – den Hafen von Odessa – hat die Ukraine selbst vermint. Nur so sieht man sich vor einem russischen Angriff vom Schwarzen Meer aus ausreichend geschützt. Das Problem: 57 Schiffe mit insgesamt einer Million Tonnen Getreide kommen nicht weg.
„Russland missbraucht Lebensmittel als Kriegswaffe“, twitterte EU-Ratspräsident Charles Michel empört vom Gipfel. „Die Ernte wird vernichtet, Tonnen von Getreide sind blockiert, eine globale Hungersnot wird riskiert.“
22 Millionen Tonnen Getreide müssen binnen der nächsten drei Monate aus der Ukraine exportiert werden – oder ein Gutteil davon wird verrotten. Und es gibt zu wenige Silos und Speicher, um die neue Ernte einzulagern.
Normalerweise transportiert die Agrar-Großmacht Ukraine pro Monat 6 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten. Derzeit sind es nur noch 1,2 Mio. Tonnen.
Selbst mit den allergrößten Bemühungen vonseiten der EU könnte es kaum doppelt so viel sein. Dafür versuchen die EU-Regierungen, wie sie beim Gipfel in ihrer Schlusserklärung festhielten, „Solidaritätsspuren“ zu schaffen: Über den Landweg und Häfen in Rumänien, vor allem jenen in Constanta, soll der Export des Getreides beschleunigt werden.
Die logistischen Herausforderungen dabei sind riesig. An den acht Bahn-Grenzübergängen nach Polen, Ungarn, Rumänien und in die Slowakei können pro Tag insgesamt nur rund 450 mit Getreide gefüllte Waggons übernommen werden. Auf den ukrainischen Bahnstrecken aber stauen sich derzeit an die 9.000 Waggons.Grund dafür sind auch bürokratische Hindernisse in der EU – langwierige Zollformalitäten und Hygienechecks. Sie alle, so die Forderung beim EU-Gipfel, sollen nun drastisch reduziert und der Transport beschleunigt werden.
Bleibt als vorerst unüberwindliches Problem noch immer die unterschiedliche Spurbreite der Züge: Als Erbe der UdSSR ist sie um 10 cm breiter als im Rest Europas. Das heißt, die Waggons müssen an der Grenze umgeladen oder auf passende Fahrgestelle umgesetzt werden.
Brüssel appelliert deshalb an alle Mitgliedsländer, Lkw, Waggons und Geräte zur Verfügung zu stellen, um Ausweichtransporte zu organisieren. Doch auch in der EU weiß man:
Der wirksamste Exportweg führt übers Meer. Das aber verhinderte bisher Kremlherr Putin und zeigte sich unerbittlich gegenüber allen Forderungen, die Häfen nicht mehr zu blockieren.
Exporte ja, ließ Putin wissen, aber erst, wenn die EU die Sanktionen gegen Russland aufhebe. Doch dass diese bald beendet würden, sagte ein hoher EU-Diplomat am Gipfel, „davon kann man derzeit nicht ausgehen“.
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