Gewaltforscher: "Krieg ist immer eine Möglichkeit"
KURIER: Die multiple Krise stellt den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf die Probe. Müssen wir verstärkt mit gewaltsamen Entladungen der entstandenen Spannungen – wie wir das bereits bei den Gelbwesten in Frankreich gesehen haben – in Europa rechnen?
Jörg Baberowski: Österreich und Deutschland sind, anders als Frankreich und Italien, von der Kultur des Konsenses geprägt. Aber es wird auch hier zu heftigen sozialen Konflikten kommen, besonders in Ostdeutschland, wo die Bürger ohnehin das Gefühl haben, am politischen Willensbildungsprozess kaum beteiligt zu sein. Die soziale Frage wird unter den Bedingungen der gegenwärtigen Wirtschaftskrise wieder an Bedeutung gewinnen. Und sie wird denjenigen politischen Gruppierungen einen Vorteil verschaffen, die die soziale Frage zum Thema machen, wie die FPÖ in Österreich oder der Front National in Frankreich. Was früher die klassische Linke für sich beansprucht hat, thematisiert jetzt die populistische Rechte. In Deutschland ist es aus verschiedenen Gründen schwieriger für rechte Parteien, sich im politischen System zu etablieren. Deshalb wird sich der Protest in Deutschland wahrscheinlich jenseits des Parlaments formieren.
Ist das mehr oder weniger unausweichlich – weil ja die Entwicklungen von der Politik nur bedingt, und schon gar nicht kurzfristig beeinflussbar sind?
Das ist schon deswegen unausweichlich, weil sich die Parteien in Deutschland und Österreich des Staates bemächtigt, ihn sich zur Beute gemacht haben. Das Verhältniswahlrecht befördert Personen in einflussreiche Positionen, die der Bürger überhaupt nicht gewählt hat, die allein durch Wohlverhalten in der eigenen Partei auf eine Wahlliste gesetzt wurden und auf diese Weise in Ämter gelangen, in die sie nicht gekommen wären, wenn der Bürger eine Wahl gehabt hätte. Wo das Mehrheitswahlrecht herrscht, wie in Großbritannien oder Frankreich, müssen sich namentlich bekannte Kandidaten vor ihren Wählern immerhin bewähren. Doch auch dort ist die repräsentative Demokratie in eine tiefe Krise geraten, weil viele Bürger ihr die Bewältigung von Krisen nicht mehr zutrauen. Zwar nehmen Bürger an Wahlen teil, wichtige Entscheidungen aber können sie nicht mehr, beeinflussen, weil diejenigen, die tatsächlich Macht ausüben, von Wählern gar nicht abhängig sind. Noch vor 20 Jahren waren Gewerkschaften, Vereine, Clubs, Kirchen mächtige Akteure – Gewerkschaften waren eine Erzwingungsmacht. Wer kennt in Deutschland heute noch den Chef der IG Metall, einst ein mächtiger Mann, heute eine Randfigur im politischen System?
Ist daran die IG Metall schuld oder die Politik oder …?
In der globalisierten Wirtschaft lassen sich soziale Anliegen nicht mehr auf den Nationalstaat eingrenzen, die Rechte von Arbeitnehmern nicht mehr durch Streiks und Proteste schützen. Deshalb können Gewerkschaften allenfalls im öffentlichen Dienst noch erfolgreich operieren. Auch haben sich traditionelle Milieubindungen aufgelöst. Wer nirgendwo noch verankert, beheimatet ist, empfindet seine Existenz anders als jemand, der in einem Milieu zu Hause ist. Der atomisierte Mensch wählt Populisten, aus Protest und im Wissen, dass sie ihm nicht zurückbringen werden, was er verloren hat.
Krieg in Europa schien beinahe undenkbar – der Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien erschien als Ausnahme. Jetzt haben wir Krieg in Europa. Was ist da passiert?
Es gab im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts viele bewaffnete Konflikte in Europa – wir haben es nur vergessen oder verdrängt. Der Krieg war immer schon eine menschliche Möglichkeit, und er ist es auch heute noch.
Aber dass ein Land einfach ein anderes überfällt, um sein Territorium auszuweiten …
Auch in den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien erhoben die Kriegsparteien Gebietsansprüche und begründeten mit ihnen ihre militärischen Operationen gegen benachbarte Staaten. So verfährt auch Russlands Regierung, die in der Ukraine keinen souveränen Staat, sondern nur eine abtrünnige Provinz sehen will. Krieg führt auch Aserbaidschan gegen Armenien, es gibt Konflikte zwischen Tadschikistan und Kirgistan, zwischen der Türkei und kurdischen Rebellen. Die Begründungen für diese Kriege stammen allesamt aus dem Wörterbuch des zoologischen Nationalismus. Man braucht sich darüber eigentlich nicht zu wundern.
Muss man Putin stoppen wie weiland Hitler – weil er sonst als nächstes nach dem Baltikum greift oder sich Polen zu unterwerfen versucht?
Russland ist überhaupt nicht imstande, die baltischen Republiken zu erobern, es scheitert schon an der Eroberung des Donbass. Welchen Gewinn könnte Russland aus der Ausweitung des Krieges schon ziehen? Es würde die NATO zur Kriegspartei machen und damit den eigenen Untergang besiegeln. Russlands strategisches Ziel ist es, die Ukraine zu schwächen und in den imperialen Zusammenhang zurückzuzwingen. Das aber scheint nicht zu gelingen. Deshalb setzt Putin auf das Mittel der Zerstörung und Zermürbung, auch, um die NATO und die EU am Ende dazu zu bringen, ihre Unterstützung für die Ukraine aufzugeben.
Wie könnte es dann weitergehen?
Wir sind in den letzten Monaten ununterbrochen überrascht worden. Nichts von all dem, was man erwarten konnte, ist wirklich eingetreten. Die Ukraine ist nicht nur nicht unterlegen. Sie war sogar siegreich. Das konnte sich im Februar niemand vorstellen. Aber wir haben uns auch nicht vorstellen können, dass wir selbst Opfer würden erbringen müssen. Ich fürchte, dass wir in eine tiefe Wirtschaftskrise kommen werden. Die Energiekosten werden steigen, Unternehmen werden Insolvenz anmelden, Energiekosten explodieren. Die Bürger werden sich fragen: Ist das unser Krieg? Und müssen wir für seine Fortsetzung Verantwortung übernehmen? Wahrscheinlich wird die einheitliche Haltung der westlichen Länder im Winter aufbrechen. Putin ist ein Spieler, der glaubt, warten zu können, bis die Abwehrfront in sich zusammenfällt. Was aber werden die Regierungen in den USA und in Europa tun, wenn Putin den Krieg im Winter einfriert und ihn im Frühling einfach fortsetzt? Wer hat darüber eigentlich schon nachgedacht? Selbst wenn Putin diesen Krieg verlöre, müsste doch die Frage beantwortet werden, wie die Welt neu eingerichtet werden könnte. Unter welchen Bedingungen könnte ein Frieden erreicht werden, der allen Beteiligten hilft, sich mit den veränderten Umständen zu arrangieren. Russland wird auch nach einer Niederlage nicht verschwinden, und seine Eliten werden nach Gelegenheiten suchen, Rache und Vergeltung zu üben für die Schmach der Niederlage. Es kommt darauf an, dass Russland sich von innen verändert. Das wird auf Dauer nur gelingen, wenn die Regierungen in den Ländern des Westens sich auf eine Strategie verständigen, die über den Tag hinausweist. Es geht also gar nicht um die Frage, ob die Ukraine Gebiete abtreten oder kapitulieren müsse …
Sondern?
Es geht darum, dem Angriffskrieg zu widerstehen und dennoch eine Tür für einen Verständigungsfrieden offen zu halten. Die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien, aber sie sollten auf eine Weise formuliert werden, dass auch Russland mit ihnen leben kann. Denn dass Russland verschwinden oder besetzt, aufgeteilt werden wird, ein Diktatfrieden also durchgesetzt werden kann, ist doch sehr unwahrscheinlich.
Also Neutralität für die Ukraine, Verzicht auf NATO-Beitritt?
Russland ist geschwächt, militärisch erfolglos, also darauf angewiesen, früher oder später Kompromisse zu machen. Eine Eroberung der Ukraine durch russische Truppen scheint mir völlig ausgeschlossen zu sein. Irgendwann wird es also zu Verhandlungen kommen müssen. Es muss auch nach dem Ende des Krieges möglich sein, wieder miteinander zu leben. Russland verzichtet auf die eroberten Gebiete, die Ukraine erklärt sich für neutral. Einen Versuch wäre es wert, wenngleich es heute so aussieht, als könne ein solcher Verständigungsfrieden niemals erreicht werden …
Aber wäre das nicht ein Versuchsballon auf dem Rücken der Ukraine?
Es liegt weder im Interesse der Ukraine noch der EU, diesen Krieg zu verlängern. Auch in der Ukraine ist die Leidensfähigkeit der Menschen begrenzt, und in den Ländern des westlichen Bündnisses wird die Bereitschaft abnehmen, der Ukraine zu helfen.
Also ist es nicht „unser Krieg“?
Für viele Menschen sicher nicht.
Aber sollte, müsste es – moralisch gesehen – „unser Krieg“ sein?
Dann wäre der Krieg in Kurdistan auch unser Krieg. Dann müssten wir schwere Waffen auch nach Armenien liefern. Dann müssten wir China und Saudi-Arabien mit Sanktionen belegen. Man kann sich immer moralisch empören. Aber man muss für eine dauerhafte Empörung Unterstützung mobilisieren. Wie soll das in einer demokratisch verfassten Gesellschaft funktionieren? Sollte die Ukraine in diesem Krieg nicht siegen, dann wird die Zeit gegen die Ukraine arbeiten.
Sind also die Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine ein Fehler?
Ich weiß es nicht. Ich sehe nur, dass sich der Krieg in die Länge zieht, möglicherweise noch Jahre dauern könnte. Wer weiß das schon. Die Ukraine wird vor allem aus den USA mit Waffen beliefert, der Schlüssel zum militärischen Erfolg oder Misserfolg der Ukraine liegt also in Washington, nicht in Berlin. Mir wäre wohler, wenn erkennbar würde, dass die Lieferung von Waffen sich an politischen Strategien orientierte. Denn sollten sich die USA aus dem Konflikt herausziehen, aus welchen Gründen auch immer, dann stünden die Europäer allein vor der Frage, wie dieser Konflikt beizulegen sei. Auch haben die USA in Osteuropa andere Interessen als die Europäer. Sie müssen sich mit den unmittelbaren Folgen kriegerischer Auseinandersetzungen in Europa nicht konfrontieren lassen. Die USA wollen Russland schwächen und China treffen. Europas Regierungen hingegen müssen eine kluge Antwort auf die Frage finden, wie eine Sicherheitsarchitektur aussehen könnte, in der Russland und seine Nachbarn im Frieden miteinander leben könnten. Das Verlangen, Waffen zu liefern, ist noch keine Strategie.
Ist der Westen bzw. die NATO mit schuld am Krieg?
Präsident Obama hat vor Jahren einmal gesagt, Russland sei nurmehr eine Mittelmacht. Das war zweifellos eine zutreffende Feststellung. In Moskau aber wurde sie anders verstanden, nämlich als Hinweis darauf, dass mit Russland nicht mehr gerechnet werden müsse, die NATO in allen Belangen freie Hand habe. Seit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 setzte sich nicht nur in Regierungskreisen die fixe Idee fest, dass Russland betrogen worden sei, sich die NATO auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion ausbreiten wolle. Ihren Höhepunkt erreichten die antiwestlichen Ressentiments während der Intervention der NATO im Kosovo und der Ereignisse auf dem Maidan im Jahr 2014. Man hat im Westen falsch eingeschätzt, was die Erfahrungen der 90er Jahre im Gefühlshaushalt vieler Russen bewegt haben und welche Bedeutung das untergegangene Imperium für viele Menschen immer noch hatte. Damit hätte man vielleicht klüger umgehen können.
Das läuft auf das alte Argument, man dürfe den Bären nicht reizen hinaus …
Natürlich kann man einen Bären reizen, man kann ihn sogar erlegen. Aber es ist von großem Vorteil, zu wissen, was Bären gemeinhin tun, wenn sie gereizt werden. Die diplomatischen Versuche sind allesamt gescheitert, die militärischen Möglichkeiten auf beiden Seiten aber noch nicht ausgeschöpft. Putin steht mit dem Rücken zur Wand, die Teilmobilmachung ist ein weiterer Schritt auf dem Weg in die militärische Eskalation. Müssen wir mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen rechnen? Ich weiß es nicht. Aber im Blick haben sollte man diese Möglichkeit schon.
Was hätte es bedeutet, die Reaktion des Bären richtig einzuschätzen?
Russland wird weiter bestehen, selbst wenn es diesen Krieg verlieren sollte. Aber es wird dann wahrscheinlich von Extremisten und Radikalen regiert werden, denen der Sinn nach Rache und Vergeltung steht. Wir müssen den Zerfall Russlands abwenden, begreifen, dass es sich nur dann von innen verändern wird, wenn es gute Gründe für den Abschied vom Imperium gibt. Ob uns das gefällt oder nicht: die zukünftige Friedensordnung wird am Verhandlungstisch festgelegt werden, und dort müssen Bedingungen ausgehandelt werden, die für alle Beteiligten gesichtswahrend sind. Darauf kommt es jetzt an. Wer den Frieden auf Dauer wahren will, muss jetzt eine Antwort auf die Frage finden, wie er garantiert werden soll und welche Rolle Russland in der zukünftigen Sicherheitsarchitektur einnehmen kann. Solange die gegenseitige Eskalation das Geschehen bestimmt, werden die Nachbarn nicht im Frieden leben können. Der Westen muss eine Tür öffnen, durch die Russland gehen kann und die es seiner Bevölkerung ermöglicht, sich vom Ballast der Vergangenheit zu befreien. Das ist aber auch deshalb von Bedeutung, weil sich die Blöcke der Vergangenheit längst aufgelöst haben. Russland ist nun mit China, Indien, Iran im Bund, wendet sich ab von Europa. Die Weltordnung hat sich zum Nachteil Europas verändert. Europa ist längst nicht mehr der Nabel der Welt. Und schon deshalb sind europäische Politiker gut beraten, sich auf dem Feld der internationalen Beziehungen neu einzurichten und den eigenen Bedeutungsverlust produktiv zu verarbeiten.
Nun gibt es ja im Westen auch durchaus nicht wenige, die für Putin – zumindest bis vor dem Krieg – gewisse Sympathien haben. Was sind die Gründe für dieses „Putin-Verstehertum“?
Vielen Menschen sind Würde und Anerkennung wichtiger als Meinungsfreiheit und Bürgerrechte. Davon haben Liberale leider keinen Begriff. Alleinherrscher, die sich auf den Volkswillen berufen, vermitteln den Eindruck, das Leben könne durch entschlossenes Handeln hier und jetzt verändert werden. Bisweilen finden sie Zustimmung, weil sie das Ehr- und Gemeinschaftsgefühl von Millionen in Worte fassen. Das alles spricht Menschen an, die am Rand der Gesellschaft stehen, ohne Einfluss sind und kein Gehör finden.
Sie haben 2018 in einem Interview mit der NZZ gesagt: „Freiheit und Ordnung sind keine Gegensätze. Ordnung ist der Grund, auf dem die Freiheit gedeiht. Konservative wissen das. In Russland weiß es jeder.“ Wie sehen Sie das heute?
Man kann Freiheit auf verschiedene Weise definieren: als Freiheit, zu tun, was man will oder als Freiheit, die vom Recht begrenzt ist. Freiheit, die sich nur auf den eigenen Willen beruft, gibt dem Stärkeren, was er braucht, hält das Leben in Willkür und gibt auch den Herrschenden keine Sicherheit. Erst durch die Rechtsordnung kann die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in ein gedeihliches Verhältnis gesetzt werden. Ohne die Instrumente, die die Geltung des Rechts jederzeit erzwingen können, wäre es überhaupt nicht möglich, von der Freiheit Gebrauch zu machen. Schon immer waren Ordnung und Freiheit aufeinander bezogen. In Europa ist das Wissen darüber, worauf die Freiheit beruht, verloren gegangen, in Russland weiß es jeder, weil Millionen Menschen erlebt haben, was es heißt, sich dem Recht des Stärkeren zu beugen, nur noch für den nächsten Tag zu leben. Und dennoch kann der Staat sein Gewaltmonopol auch missbrauchen, um seine Bürger zu drangsalieren, wie es jetzt gerade in Russland geschieht. Die Freiheit bedarf der Ordnung, aber die Hüter der Ordnung können sie auch jederzeit wieder dispensieren. Aus diesem Dilemma gibt es kein Entkommen.
Sie haben immer wieder kritisiert, dass es ein linkes Hegemonialmilieu gibt, welche genau solche Überlegungen tendenziell diskreditiert.
In Deutschland ist das Wissen um die Grundlagen der freiheitlichen Ordnung verloren gegangen, in allen politischen Milieus, mögen sie sich nun als links oder als konservativ bezeichnen. Es gibt keinen Austausch von unterschiedlichen Auffassungen mehr, weil diejenigen, die oben sind, glauben, dass andere Auffassungen gar nicht mehr gehört werden müssten. Man trifft nur noch auf seinesgleichen, bekommt also tagtäglich bestätigt, dass die Welt genau so beschaffen ist, wie man selbst sie sieht. Es gibt kein Korrektiv mehr, weil sich niemand mehr zu Wort bringen kann, ohne als Störenfried diskreditiert zu werden. Der Abweichler wird mit Hinweisen auf „Werte“ abgewertet. Wer stört, spalte die Gesellschaft, heißt es sogleich. Wann immer davon die Rede ist, es müssten „unsere Werte“ verteidigt werden, geht es in Wahrheit darum, die eigene Einrichtung der Welt für allgemeinverbindlich zu erklären und Widerspruch moralisch zu sanktionieren. Die Gesellschaft stellen sich solche Pädagogen als einen homogenen Zusammenhang vor. Sonst könnten sie nicht von Spaltung sprechen. Dagegen könnte man sich nur wehren, wenn in den Leitmedien die Kultur des Widerspruchs gepflegt würde. Stattdessen herrscht dort eine Kultur der Zustimmung zu allem, was im hegemonialen Diskurs gesagt und verlangt wird. Menschen vertreten unterschiedliche Werte, haben unterschiedliche Moralvorstellungen. Es ist nicht Aufgabe des Staates, über Wert und Unwert von Lebenseinstellungen zu befinden. Er muss vielmehr sicherstellen, dass all diese Auffassungen ungehindert zu Wort kommen.
Auch auf europäischer Ebene erleben wir das, wenn etwa Polen oder Ungarn ein Verstoß gegen „europäische Werte“ vorgeworfen wird …
Fragen Sie doch einmal einen polnischen Konservativen, was er sich unter europäischen Werten vorstellt. Nation, Religion, Familie, das Abendland – das sind die Begriffe, die wahrscheinlich zur Sprache kämen. In Deutschland würden die Antworten größtenteils anders ausfallen. Wer soll denn nun entscheiden, was europäische Werte sind?
Was folgt daraus?
Plurale Gesellschaften beruhen darauf, dass unterschiedliche Wertvorstellungen koexistieren können. Denn solange die Freiheit des anderen nicht eingeschränkt wird, darf ich denken und sagen, wonach mir der Sinn steht. Wir alle halten uns an Regeln, die jederzeit auch durchgesetzt werden können. Normen sind erzwingbare Rechtsvorschriften, Werte sind Maßstäbe, an denen wir bemessen, wie die Welt beschaffen sein sollte. Jeder darf die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen einrichten. Denn Werte ändern sich ununterbrochen. Vor einem halben Jahr waren die meisten Politiker, Wissenschaftler und Journalisten in Deutschland noch Pazifisten. Und jetzt rufen sie nach schweren Waffen, schwenken Fahnen und besingen männliche Helden, die ihre Familien und ihr Vaterland verteidigen. Und sie werden nicht müde, jedermann einzureden, dass dies nun die Werte seien, die sich alle zu eigen machen müssten. Die Tyrannei der Werte ist in Wahrheit der Versuch, die eigenen Wertvorstellungen für verbindlich zu erklären und all jene zu diskreditieren, die sich ihnen nicht unterwerfen wollen. Der Staat sollte in Wertfragen neutral bleiben, nicht zur Partei werden. Denn seine Aufgabe ist es, eine Rechtsordnung zu schützen und durchzusetzen, in der die Verschiedenen verschieden bleiben dürfen.
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