"Putin ist ein Narr": Wie russische Soldaten daheim von der Front erzählen

"Niemand hat uns gesagt, dass wir in den Krieg ziehen. Sie haben uns erst einen Tag vorher gewarnt."
"Sie sagten, wir würden trainieren gehen. Diese Bastarde haben uns nichts gesagt."
"Wir wurden verdammt nochmal reingelegt wie kleine Kinder."
"Putin ist ein Narr. Er will Kiew einnehmen? Es gibt für uns keinen Weg, das zu tun."
"Mama, dieser Krieg ist die dümmste Entscheidung, die unsere Regierung je getroffen hat."
So und ähnlich dürften die russischen Soldaten ihren Angehörigen daheim von der Front erzählen. Die Telefonate waren nur für ihre Vertrauten bestimmt, doch noch jemand hörte mit: die ukrainische Regierung.
Mitschnitte
Die ukrainische Strafverfolgungsbehörde soll mehr als 4.000 Tonmitschnitte in der Gegend von Bucha aufgezeichnet und der New York Times zur Veröffentlichung gegeben haben. Die Echtheit der Anrufe wurde überprüft, indem die russischen Telefonnummern mit jenen von Messaging-Apps und Social-Media-Profilen abgeglichen wurden. Nach eigenen Angaben hat die Times fast zwei Monate damit verbracht, die Aufnahmen zu überprüfen und zu übersetzen.
Die Mitschnitte geben Aufschluss über die (Un-)Ordnung des russischen Militärs und die Unzufriedenheit der Kämpfer an der Front. Die Soldaten beschreiben eine Krise der Moral und einen Mangel an Ausrüstung und sagen, dass sie über die Mission, auf der sie sich befinden, belogen wurden.
"Wir müssen jeden töten"
Die Gespräche reichen von Banalitäten bis zu detailliert beschriebenen, brutalen Handlungen und beinhalten auch unverblümte Kritik an Putin und dem Militär - Äußerungen, die in Russland strafbar sind, würden sie dort öffentlich gemacht werden. Deswegen hat die Times nur den Vornamen der Soldaten und nicht den Familiennamen veröffentlicht.

Vergangene Woche hat Putin die Teilmobilisierung verkündet.
Die Anrufe reichen zurück bis März, wenige Wochen nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. "Die Dinge laufen hier nicht gut", schildert ein Soldat damals. Früh scheinen die Soldaten die taktischen und logistischen Fehler des russischen Militärs zu bemerken. Ein Soldat erzählt, dass 90 Männer um ihn herum getötet wurden, als sie während der Fahrt überfallen wurden. Ein anderer beschreibt Reihen von Särgen mit den Leichen von 400 jungen Fallschirmjägern, die darauf warten, von einem Flughafenhangar nach Hause zurückgebracht zu werden.
Auch Beweise von Kriegsverbrechen soll auf den Aufnahmen aufgezeichnet sein: Ein Soldat gesteht seiner Freundin am Telefon, dass ihm die Hinrichtung von drei Männern angeordnet worden sei, die "an unserem Lagerhaus vorbeigingen", und dass er "ein Mörder" geworden sei. "Wir haben den Befehl, jeden zu töten, den wir sehen."
"Ich brauche meinen Mann zurück"
Die Angehörigen der Soldaten reagieren unterschiedlich. Einige ermutigen sie, die Armee zu verlassen, andere fordern sie auf, stark zu bleiben. Eine Frau sagt: "Ich brauche das verdammte Geld nicht. Ich brauche nur meinen Mann zurück."
Andere Familien erzählen, wie sie die Auswirkungen der Sanktionen spüren und wie die Preise für Grundnahrungsmittel steigen. Sie beklagen die Schließung von Marken wie McDonald's, H&M und Ikea sowie das Schließen von Medienunternehmen.
Ob die aufgezeichneten Telefonate künftig auch für strafrechtliche Zwecke verwendet werden, um etwa Kriegsverbrechen zu verfolgen, ist nicht bekannt.
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