Vom korsischen Terroristen zum Souvenirhändler

Antifranzösisches Graffiti in Corte: Für viele ist der Separatist Yvan Colonna, der 1998 den französischen Repräsentanten tötete, ein Märtyrer.
Anfang September in Ajaccio. Die größte Stadt auf Korsika gedenkt des Aufstands der Korsen und der Befreiung von Mussolinis und Hitlers Truppen durch die Alliierten 1943. Die Gardisten halten die schweren Fahnenstangen der französischen Nationalflaggen. In der Mitte des weißen Streifens: ein schwarzer Kopf mit einer weißen Stirnbinde – das Wappen Korsikas. Lokale Amtsträger, Marineoffiziers, Schaulustige. Kinder lesen die Antwort der Korsen auf Mussolinis Forderung vor, Korsika müsse ein Teil Italiens werden. Es ist ein Zitat, das die Versammelten alle kennen: "Vor der Welt schwören wir, dass wir als Franzosen leben und sterben." Die Blaskapelle ertönt und spielt die französische Nationalhymne.
"Das war die Generation meiner Eltern. Der Feind war der Faschismus. Unser Feind ist der französische Zentralismus", sagt der Souvenirladenbesitzer Guy Ciccada. Auch er kämpfte einst für ein "freies" Korsika – frei von Frankreich, und das teils sogar gewalttätig mit der Untergrundorganisation FLNC.
Am Nebentisch sitzen urlaubende Festland-Franzosen, mit denen Ciccada eben noch gescherzt hat.

Die größte Stadt auf Korsika gedenkt des Aufstands der Korsen und der Befreiung von Mussolinis und Hitlers Truppen durch die Alliierten 1943.
Gefühl der Entrechtung
Korsikas Geschichte ist eine von Besetzung und Widerstand – gegen die Franken, die Mauren, die Genuesen und schließlich die Franzosen. Bis in die 2010er-Jahre tobte der gewalttätige Fronte di Liberazione Naziunale Corsu, kurz FLNC: Bombenanschläge auf Ferienhäuser von Festland-Franzosen, Geiselnahmen, die Tötung von "moderaten" Autonomisten gingen auf sein Konto. Die Gewalt gipfelte in der Ermordung des französischen Repräsentanten auf Korsika durch den Separatisten Yvan Colonna 1998. Der Souvenirladenbesitzer Ciccada ist mit Colonna zur Schule gegangen.
Im März, nach einem Aufflammen der Gewalt nach dem Tod des inhaftierten Colonna, einigten sich Paris und Ajaccio auf einen Autonomie-Status – ein Paradigmenwechsel im zentralistischen Frankreich. Die Pläne kamen wegen der Neuwahlen ins Stocken.
Ciccada bringt Kaffee. Der kräftige, gesellige Korse beginnt zu erzählen: von Ungleichbehandlung und dem Gefühl der Schlechterstellung im eigenen Land, das viele seiner Generation erlebten. Weil in der Schule die korsische Sprache verboten wurde. Weil die Festland-Franzosen zu billigen Konditionen Land erwerben konnten. Oder weil nach dem Algerien-Krieg die Franzosen aus Nordafrika (die "pieds noirs") am Festland nicht willkommen geheißen und stattdessen auf Korsika angesiedelt wurden und Landwirtschaft erhielten, "während wir nichts hatten", sagt Ciccada. Auch gegen sie richtete sich die Gewalt des FLNC.

Guy Ciccada, einst dem FLNC nahe stehend, verkauft heute Souvenirs nahe dem Geburtshaus Napoleons in Ajaccio.
Auf der viertgrößten Insel im Mittelmeer leben rund 355.000 Menschen – weniger als in Wiens größten Bezirken Favoriten und Donaustadt. Die Insel ist eine Gebietskörperschaften mit Sonderstatus, verfügt bereit über Privilegien: eine reduzierte Mehrwertsteuer, Korsisch als Pflichtfach in der Grundschule, ein eigene Versammlung mit bestimmten Kompetenzen.
Die Autonomie sähe zusätzliche Freiheiten in der Gesetzgebung und Finanzpolitik vor sowie Einschränkungen beim Bodenverkauf an Nicht-Korsen. Nach dem Tod des korsischen Separatisten Yvan Colonna 2022 in Haft kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen auf Korsika. Macron hat danach einen Autonomieprozess angekündigt.
Heute gilt der FLNC als weitgehend inaktiv. Und doch hegen vor allem Junge Sympathien für ihn. In der Studentenstadt Corte findet man unzählige antifranzösische Graffitis, die den FLNC und den "Märtyrer" Colonna feiern.
Autonomie soll Identität bewahren
"Wir haben das Gefühl, nur die Autonomie kann unsere Kultur erhalten", so die 23-jährige Francesca mit den langen braunen Haaren. Sie hat in Lyon studiert, wusste aber immer, dass sie zurück nach Korsika wolle. Mit ihrer Familie spricht Francesca vorwiegend Korsisch, die Sprache ähnelt mehr dem Italienischen als dem Französischen. Der 21-jährige Lucas, schwarzer Pulli, aus einem Dorf in der Nähe von Bastia im Norden Korsikas, sagt: "Ich bin kein Autonomist, nicht für eine Unabhängigkeit. Aber ich glaube, dass sich Korsika besser entwickeln könnte, wenn es etwas mehr Entscheidungsfreiheit hätte."
Wenn einer über die politische Lage der Insel Bescheid weiß, ist das der Historiker Didier Rey – geboren am Festland, aufgewachsen auf Korsika. Also, wie nationalistisch sind die jungen Korsen? "Nationalismus ist auch unter den Jungen verbreitet – ganz gleich welche sozio-ökonomische Herkunft sie haben." Besonders laut sei der Nationalismus der extremen Rechten, "der auch rassistisch und anti-muslimisch ist. Das war nicht immer so", sagt der schmale Franzose.

"Wir haben das Gefühl, nur die Autonomie kann unsere Kultur erhalten", sagt die 23-jährige Studentin Francesca.
Längst haben nationalistische Parteien im Regionalparlament die Mehrheit inne. Colonnas ehemaliger Anwalt ist heute Präsident des Inselparlaments. Untereinander sind die Nationalisten zerstritten, Extremisten gegen "Moderate" und umgekehrt. Einige korsische Autonomisten sind glühende Anhänger der EU, weil sie in ihr und dem Subsidiaritätsprinzip eine Möglichkeit sehen, den französischen Zentralismus zu schwächen. Die Extremisten sind es auch, die die mit Paris ausgehandelten Pläne zum Autonomie-Status ablehnen – weil sie ihnen nicht weit genug gehen.
"Eine völlige Unabhängigkeit Korsikas ist illusorisch." Da sind sich Guy Ciccada, Didier Rey, Francesca und Lucas die Jungen einig.
Angst vor Gewalt
Natürlich, sagt der Historiker, würde die Autonomie die Probleme Korsikas von einen Tag auf den anderen nicht lösen – die Armut, die extreme Ungleichheit, die horrenden Wohnpreise. "Aber sie würde helfen, Spannungen abzubauen. Franzosen gegen Korsen, Korsen gegen Franzosen. Das müssen wir endlich hinter uns lassen." Nur störte sich Rey von Anfang an am Zeitpunkt der Verhandlungen: "Dass diese nach der Ermordung Colonnas und den gewaltsamen Ausschreitungen aufgenommen wurden, erweckt den Eindruck, dass die Eskalation die Verhandlungen erst ermöglicht habe."

"Wenn die Verhandlungen scheitern, wird die Antwort hier wieder Gewalt sein", glaubt der Historiker Didier Rey.
Anfang Oktober hat der neue französische Premier Michel Barnier eine "Wiederaufnahme des Dialogs" angekündigt. Nationalistische Inselpolitiker zeigten sich unzufrieden, die Aussage sei inhaltslos. Barnier kommt aus einer Partei, die mehr Autonomie für die Insel eigentlich ablehnt. "Wenn die Verhandlungen scheitern, wird die Antwort hier Gewalt sein. Ich halte es für wahrscheinlich, dass sie dann wieder aufflammen könnte", warnt Rey.
Der einstige FLNC-Anhänger und Souvenirhändler Ciccada nennt Barnier einen "Mann des Dialogs, keinen Technokraten. Auch wenn er nicht ideal ist, ist er die einzige Option, die wir derzeit haben."
Hinweis: Die Reise wurde vom Projekt "eurotours" des Bundeskanzleramts finanziert.
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