Was hinter den Protesten gegen Frankreichs Pensionsreform steckt
In Österreich stößt der Widerstand gegen ein Pensionsalter von 64 Jahren auf Unverständnis. Ein Erklärungsversuch, warum die Franzosen auf die Barrikaden gehen.
"Diese Reform ist notwendig", versuchte Premierministerin Élisabeth Borne die empörte Opposition in der Nationalversammlung zu überzeugen. Vergeblich. Schließlich wurde das Gesetz mit Verfassungsartikel 49.3, ohne parlamentarischer Abstimmung, durchgepeitscht. Kritiker sprechen von einer "Entscheidung mit Holzhammer", einem "Armutszeugnis der Regierung". In der Nacht auf Freitag brannten Holzpaletten auf der Place de la Concorde, 310 Protestierende wurden verhaftet. Die Opposition kündigte Misstrauensvoten an. Ein Blick auf die Reform, die die Franzosen auf die Barrikaden treibt.
Worum geht es bei der Reform nochmals genau?
Das französische Rentensystem ist ungleich und komplex, es existieren 42 Systeme, zugeschnitten auf bestimmte Berufsgruppen. "Ein Beispiel: Bei Beamten errechnt sich die Rente auf Basis des Einkommens der letzten sechs Monate des Erwerblebens. Im privaten Sektor basiert sie auf Basis der letzten 25 Erwerbsjahre", erklärt der Politologe Dominik Grillmayer vom Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg dem KURIER.
Ganz allgemein sieht die Reform eine sukzessive Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre bis 2030 vor. Gleichzeitig soll ab 2027 die Beitragszeit, die man gearbeitet haben muss, um eine abschlagsfreie Pension zu erhalten, von 42 auf 43 Jahre verlängert werden. Die monatliche Mindestpension will man auf 1.200 Euro hochsetzen.
Gehen die Franzosen wirklich schon mit 62 Jahren in Pension?
Tatsächlich beginnt der Ruhestand im Schnitt meist später: Wer für eine volle Pension nicht lange genug eingezahlt hat, muss jetzt schon bis 67 Jahre arbeiten, um eine Rente ohne Abschläge zu erhalten. Je nach Branche gibt es aber zum Teil Sonderregelungen. Laut Gewerkschaften würden 25 Prozent der schlechter Verdienenden mit körperlich anstrengenden Jobs aber schon vor Erreichen des 64. Lebensjahrs sterben.
Warum sorgt die Reform für so viel Protest?
Seit jeher ist das Pensionssystem ein heikles Thema. Die Pension mit 60 war ein Sieg der Arbeiterbewegung unter dem sozialistischen Präsidenten François Mitterrand 1981. Erst 2010 traute sich Nicolas Sarkozy, das Antrittsalter auf 62 Jahre heraufzusetzen. Schon damals begleiteten die Reform heftige Proteste.
Ist die Reform gerecht?
Kritikern zufolge müssen künftig jene länger arbeiten, die früher in den Arbeitsmarkt eintreten – meist weniger Qualifizierte mit einem körperlich schwereren, schlechter bezahlten Beruf. Auch Arbeitnehmer, die hauptsächlich auf Werkvertragsbasis arbeiten, würden nicht genügend Jahre für eine Pension mit 64 zusammenbekommen – genauso wie Frauen mit Kindern in Teilzeitverhältnissen. Selbst Franck Riester, Minister für Parlamentsbeziehungen räumte ein, Frauen würden durch die Reform "ein wenig bestraft".
Gibt es keine anderen Möglichkeiten?
Der Handlungsspielraum ist begrenzt: Die Pensionen zu senken, ist in Zeiten hoher Inflation (6,3 Prozent) undenkbar. Auch Frankreich kämpft gegen Altersarmut, vor allem unter Frauen. Höhere Sozialbeiträge würden die Lohnnebenkosten der Unternehmen erhöhen – die will die Regierung seit Jahren senken.
Wie ist das System im europäischen Vergleich?
Frankreichs Pensionssystem ist im Schnitt ziemlich teuer: Rund 332 Milliarden Euro kostete es 2020 den französischen Staat, 14,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der OECD-Schnitt beträgt zehn Prozent, in Österreich waren es 2019 13 Prozent des BIP.
Welche Probleme bleiben trotz Reform offen?
Offen bleibt, wie ältere Arbeitslose besser im Arbeitsmarkt gehalten werden können. Derzeit arbeitet in Frankreich nur ein knappes Drittel der über 60-Jährigen (der Rest ist in Frühpension, Arbeitslosigkeit, nicht arbeitsfähig), in der EU liegt der Schnitt bei 45 Prozent. Ein höheres Rentenalter bedeutet für viele daher nicht, länger zu arbeiten, sondern länger arbeitslos zu sein – das kostet den Staat unter Umständen sogar mehr. "Es wurde zwar darüber nachgedacht, welche Maßnahmen man ergreifen kann, damit sich Unternehmen nicht vorzeitig von Arbeitnehmern trennen. Doch die Aufgabe will man zunächst noch den Sozialpartnern überlassen, da soll der Staat vorerst nicht eingreifen", so der Politologe.
13 Prozent des BIP gab der Staat 2019 für Pensionen aus. Das österreichische Pensionsalter liegt für Männer bei 65 Jahren, für Frauen noch bei 60 – ab 1. Dezember 2023 steigt es jedoch jedes Jahr um ein halbes Jahr, bis es also in zehn Jahren dem Antrittsalter der Männer entspricht.
Wer später in Pension geht, wird finanziell belohnt: pro Jahr um 4,2 Prozent ("Korridorpension"). Umgekehrt muss für jedes Jahr vor dem Antrittsalter ein Abschlag von 5,1 Prozent gezahlt werden. Frankreichs Pensionisten erhalten der OECD zufolge im Schnitt 74 Prozent ihres durchschnittlichen Lebenseinkommens – netto. In Österreich sind es 87 Prozent (EU-27: 68 Prozent).
"Im Wahlkampf 2017 hatte Macron noch von einer großflächigen Pensionsreform gesprochen, mit einem allgemeinen Punkte-System. Nach den Gelbwestenprotesten und der Pandemie soll die aktuelle Reform nur mehr Defizite füllen, über deren Ausmaß Wissenschaftler jedoch uneins sind", betont Grillmayer. "Generell hat die Regierung von Anfang an unklar kommuniziert, hat es nicht geschafft, den Kampf um die öffentliche Meinung zu gewinnen.“
Wie geht es jetzt weiter?
Dass die von Oppositionsparteien angekündigten Misstrauensvoten Erfolg haben und die Regierung stürzen, gilt als unwahrscheinlich. "Das heikelste wird wohl jenes aus der gemäßigten Mitte der Opposition, dem beide Extreme, die linken Nupes und die rechtspopulistische Fraktion Rassemblement National zustimmen würden. Doch ohne die Konservativen, die schon angekündigt haben, nicht mitzustimmen, wird es keinen Erfolg haben. Trotzdem ist die Regierung angeschlagen und geschwächt und geht mit einem Handicap in die nächsten Herausforderungen Einwanderungsgesetz, Ausbau der erneuerbaren Energien, Dezentralisierung."
"Die Proteste werden jetzt wohl nochmal an Schärfe zunehmen. Es herrscht großes Unverständnis, dass die Exekutive auf die Kritik der Gewerkschaften und der zahlreichen Menschen auf der Straße nicht reagiert", so Grillmayer. Zum anderen könnte sich nach gescheiterten Voten Resignation in der Bevölkerung einstellen.
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