Kohlenberger: Tunesien "erledigt Drecksarbeit für die EU"

Kohlenberger: Tunesien "erledigt Drecksarbeit für die EU"
Migrationsforscherin: Brüssel macht sich von Autokrat Saied erpressbar.

Von einem "überhaupt nicht nachhaltigen Deal" spricht die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger hinsichtlich der am Sonntag unterzeichneten Absichtserklärung zwischen der Europäischen Union und Tunesien. Die Vereinbarung sieht vor, dass das nordafrikanische Land stärker gegen irreguläre Migration vorgeht. "Man bezahlt viel Steuergeld dafür, dass Tunesien die Drecksarbeit für die EU erledigt", sagte Kohlenberger im Gespräch mit der APA. Brüssel mache sich so erpressbar.

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Volatiles Übereinkommen

Die Absichtserklärung, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die Regierungschefs der Niederlande und Italien sowie Tunesiens Präsident Kais Saied am Sonntag in Tunis unterzeichneten, bezeichnete die Migrationsforscherin als ein volatiles Übereinkommen, das einseitig unterwandert werden könne.

"Die Erklärung ist rechtlich nicht bindend, also kein Vertrag, der eingeklagt werden kann. Sie hat den rechtlichen Status einer Presseerklärung", sagte Kohlenberger der APA. Tunesien sei zudem kein vertrauensvoller Mitspieler. "Man legt sich da mit einem zweifelhaften Partner ins Bett", warnte die WU-Professorin.

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EU-Gelder könnten missbraucht werden

"Bei einem Regime (Tunesien, Anm.), das gegen die eigenen Landsleute mit Gewalt vorgeht, herrscht die Gefahr, dass die EU-Gelder nicht für das verwendet werden, für das sie gedacht waren", sagte Kohlenberger. EU-Steuergeld könne laut der Expertin im Extremfall sogar dafür missbraucht werden, Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Tunis erhält für seine Kooperation Finanzhilfen in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro von der EU-Kommission.

Durch den Pakt mit Tunis macht sich die EU bei der Bekämpfung illegaler Migration von einer Autokratie abhängig - und, so Kohlenberger, damit zu einem gewissen Grade auch erpressbar "Tunesien könnte drohen, den Deal zu kippen, wenn sie irgendwann keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollen", warnte Kohlenberger. Die Gefahr sei "sehr groß", dass es dann zu einer noch verschärfteren Situation als 2020 kommen könne, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein ähnliches Migrationsabkommen aufgrund angeblich mangelnder EU-Hilfen brach und davon sprach, syrischen Flüchtlingen "die Tore nach Europa zu öffnen".

Unterschiede zu Abkommen mit Türkei

Die beiden Abkommen seien aber nicht wirklich miteinander zu vergleichen, betonte Kohlenberger. Die Hauptdifferenz zum Türkei-Abkommen sei, dass die Flüchtlinge nicht in Tunesien bleiben, sondern in andere Staaten rückgeführt werden sollen. "In der Türkei hatte man ausgedealt, dass die Leute dort untergebracht werden, einen Zugang zu Bildung bekommen, dort arbeiten und wohnen können. Das ist nicht Teil des Abkommens mit Tunesien. Da geht es nur um Rückführungen und verstärkten Grenzschutz. Tunesien hat betont, dass es diese Migranten nicht will", sagte Kohlenberger.

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Anfeindungen und rassistische Übergriffe

Kohlenberger zufolge nützt das Abkommen weder der EU noch den Flüchtlingen auf lange Sicht. "Den Schutzsuchenden kann man nicht garantieren, dass dort Grund- und Freiheitsrechte eingehalten werden", sagte die Migrationsforscherin.

Tunesiens Präsident Saied hatte schon im Februar ein härteres Vorgehen gegen Migranten angekündigt und ihnen vorgeworfen, Gewalt und Kriminalität ins Land zu bringen. Seitdem nahmen Anfeindungen und rassistische Übergriffe zu. In der Küstenstadt Sfax, von der aus viele Schlepperboote nach Europa starten, kam es zu teils tödlichen Zusammenstößen zwischen Migranten und Anwohnern. Für großes mediales Aufsehen sorgt am Montag die Rettung von 200 Migranten aus der Wüste im tunesisch-libyschen Grenzgebiet, die vom tunesischen Militär ohne Verpflegung dort zurückgelassen worden waren. Dass ausgerechnet das als noch instabiler geltende Libyen die Migranten rettete, bezeichnete Kohlenberger als "absurd".

Auch die EU würde vom Deal nicht nachhaltig profitieren. Die Fluchtrouten würden sich in andere Länder verlagern, hauptsächlich vom Landweg auf den Seeweg, betonte Kohlenberger. Von der türkischen Küste oder Lybien aus werden es Flüchtige auf weitaus gefährlicheren Routen weiter versuchen, dem europäischen Festland vorgelagerte Inseln wie Lampedusa zu erreichen, ist sich die Migrationsforscherin sicher. Ein mit 500 bis 700 Migranten besetzter Fischkutter war im Juni auf dem Weg von Libyen nach Europa in griechischen Gewässern gesunken, nur 104 Menschen überlebten das Unglück. "Schlepper schicken die Boote bewusst bei schlechtem Wetter los, um die Chance eines Pushbacks zu minimieren. Die Wege werden gefährlicher", betonte Kohlenberger.

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Die einzige nachhaltige Lösung des Problems der irregulären Migration sieht die Expertin in mehr legaler Migration. Es brauche reguläre Fluchtrouten und legale Arbeitsmigrationswege, die besser an die Realität der flüchtenden Menschen angepasst sein sollten. "Im Hinblick auf den demografischen Wandel wäre es hier an der Zeit etwas zu tun. Eine Alternative zum illegalen Schlepperwesen muss her", forderte Kohlenberger. Gegen Behörden wie die EU-Grenzschutzagentur Frontex oder die griechische Küstenwache, die sich aktiv an Pushbacks beteiligen, müsse Brüssel mit Sanktionen vorgehen und signalisieren, dass es so nicht gehe.

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