Als der Iran am 21. November in Doha gegen England spielte, waren die Schlagzeilen am nächsten Tag nicht voll mit vom englischen 6:2-Sieg. Sondern mit der Nachricht, dass die iranischen Spieler die eigene Nationalhymne vor Anpfiff nicht mitgesungen hatten. Es war ein Sportskandal, der politischer nicht hätte sein können – die ganze Welt schien dabei zugesehen zu haben, wie die Fußballer sich dem iranischen Regime unter seinem geistlichen Führer Ali Khamenei widersetzt und sich hinter die "Frau, Leben, Freiheit"-Bewegung der Bevölkerung gestellt hatten.
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Dann sangen sie wieder
Gisou war freudig überrascht davon, erinnert sie sich. Sie und einige ihrer Bekannten unterstützten das Team: "Wir wollten zeigen, dass wir zusammenhalten." Bald aber änderte sich das. Und als wenig später der offizielle Erzfeind USA gegen den Iran gewann und ihr Heimatland ausschied, freute Gisou sich. Denn ab ihrem zweiten Spiel hatten die iranischen Sportler wieder gesungen.
Gisou fühlte sich betrogen. Der gesamte Vorfall könnte Plan der Regierung gewesen sein, glaubt sie. Danach sei man sich im Land uneinig gewesen: "Ich war gegen das Team, meine Freundin dafür – wir haben uns gestritten." Und die Regierung? "Khamenei ist wahrscheinlich gemütlich in seinem Stuhl gesessen und hat uns lächelnd zugesehen", glaubt die junge Frau.
"Wenn sie mich jetzt umbringen, war es umsonst"
Als Gisou Wochen später entschied, den Protest aufzugeben, lag das aber nicht an einem konkreten Ereignis. "Eines Tages ist mir klar geworden: Wenn wir bis jetzt noch keinen Erfolg hatten, dann wird das nichts mehr", sagt sie. Sie habe Angst um ihr Leben gehabt. Und irgendwann habe sich das für sie nicht mehr ausgezahlt: "So viele Leute sind bereits gestorben, und ich dachte mir: Wenn sie mich jetzt umbringen, war es umsonst." Natürlich wolle sie Frieden sehen. Aber sie wolle sich auch nicht für nichts töten lassen.
Und so versucht Gisou, die Aufrufe zu den Protesten so gut es geht zu ignorieren. Sich an die Vorschriften zu halten. Der Sittenpolizei nicht aufzufallen. Die sei heute strenger denn je, hat sie den Eindruck. Die Polizei steht vor dem Eingang zum Park: "Sie lassen Frauen nicht durch, wenn sie den Hidschab nicht richtig aufhaben." Wer sich weigert, den nehmen sie fest.
Erst kürzlich beobachtete Gisou ein paar Polizisten. "Wie Wilde sind sie mit ihren Motorrädern herumgerast, ohne Grund" sagt sie. Damit wollten sie Präsenz zeigen, Angst schüren, glaubt sie. Doch auf die Straße muss die Polizei im Iran gar nicht mehr, um die Bevölkerung zu kontrollieren.
Modernere Überwachung
Das übernehmen zumindest teilweise die Kameras, die seit Frühling diesen Jahres im öffentlichen Raum installiert worden sind. Eine Freundin von Gisou wurde von der neuen Überwachungsmethode schon erwischt, erzählt sie: "Sie ist mit dem Auto von der Arbeit heimgefahren, hat den Hidschab nur für die Fahrt abgelegt." Wenig später sei dann die Textnachricht gekommen – mit dem Hinweis, sie sei gesehen worden.
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Und: Sollte das noch einmal passieren, erhalte sie eine Strafe. Sollte es dreimal passieren, würde ihr das Auto weggenommen werden. Für Gisou bedeutet das, dass sie im Alltag noch vorsichtiger sein muss. Oft weiß sie nicht, wem sie vertrauen kann. Über heikle, politische Themen redet sie draußen kaum noch. Wenn doch, dann nur mit ihren engsten Freunden – und mit Code-Wörtern, die sie sich vergangenes Jahr überlegt haben.
Auch am heutigen Todestag von Jina Mahsa Amini bleibt Gisou Zuhause. Wenn sie an die Proteste denkt, stimmt sie das traurig: "Vor einem Jahr dachte ich wirklich, dass wir zusammen etwas verändern können." Jetzt hat sie das Gefühl, an ihre Grenzen gestoßen zu sein. Alles getan zu haben, was sie konnte. Sie fühlt sich wie betäubt, sagt sie. Es sei an der Zeit, endlich zu gehen.
Schon seit vielen Jahren will Gisou ihr Heimatland verlassen, was finanziell und aufgrund von Visa-Erschwernissen nicht so einfach möglich ist. Vor elf Monaten hatte sie zum ersten Mal seit Langem nicht ans Auswandern gedacht. Doch die Gedanken sind zurück. Und werden langsam realer: Gisous Schwester zieht demnächst nach Kanada, Gisou will ihr folgen.
"Wer kann, läuft weg"
Immer mehr gut ausgebildete, junge Menschen verlassen den Iran. Medienberichten zufolge ist das Alter der Auswanderer zuletzt gesunken – Oberstufenschüler würden zunehmend ihre Familien zum Auswandern überreden. Kanada ist besonders attraktiv für Iraner, aufgrund der relativ einfachen Visabeschaffung. "Wer kann, läuft weg", sagt Gisou.
Die eingeschränkten Frauenrechte sind nicht die einzigen Gründe dafür, dass die Iraner gehen. Geld- und Zukunftssorgen, aber auch Umweltprobleme wie Staub und Wasserknappheit plagen die Bewohner ebenfalls.
Sollte sie es nach Kanada schaffen, freut Gisou sich auf frische Luft, sagt sie: "Ich kann hier nicht mehr atmen."
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