Hippies fürs Militär und Strandcafés an der Front: Eine Reise durch Israel im Krieg
Seit dem brutalen Terrorangriff der Hamas befindet sich Israel im Krieg, hat Hunderttausende Soldaten mobilisiert und muss damit rechnen, von mehreren Seiten angegriffen zu werden. Dennoch gibt es auch Alltag.
Es knallt. Rund um den Funkturm explodieren Geschosse. Schwarzer Rauch steigt auf. Yossi senkt sein Smartphone, auf dem er gerade das Video gezeigt hat. „Das habe ich gestern gefilmt. Genau von hier aus“, sagt er. „Hier“, das ist sein Strandcafé – keine zehn Gehminuten von der Grenze zum Libanon entfernt. Blauer Himmel, Sandstrand, sanft rauscht die Meeresbrandung. Eine Holzlaube spendet Schatten, am kleinen Tisch vor den bequemen Holzbänken liegt ein Feldstecher, mit dem Yossi die Geschehnisse an der Grenze im Auge behält.
Fast täglich sterben israelische Soldaten durch Beschuss der schiitischen Hisbollah-Miliz. Eskaliert der Konflikt hier, dürften allein von Hisbollah-Seite aus 150.000 Raketen nach Israel fliegen, Israel dafür den Südlibanon in Schutt und Asche legen.
Auch jetzt ist das Brummen israelischer Drohnen zu hören, die das Grenzgebiet überwachen. Etwa drei Kilometer weiter östlich steigt Rauch aus einem Wald auf – laut Yossi hat die Hisbollah dort mit Mörsern über die Grenze geschossen.
In den vergangenen Tagen haben die Hisbollah-Angriffe auf Funktürme zugenommen – wohl, um die Kommunikation der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) zu stören. Grundsätzlich eine klassische Vorbereitung für einen größeren Angriff. „Dass die Hisbollah tatsächlich eine Offensive wagt, bezweifle ich sehr“, sagt ein israelischer Offizier zum KURIER. „Aber wir sind an einem Punkt, an dem hier alles eskalieren kann.“
Yossi macht sich darüber keine allzu großen Gedanken: „Überall im Land herrscht Chaos, da kann ich gleich hierbleiben, wo es immerhin schön ist“, lacht er. Dem Mann, der auf der Bank neben ihm Platz genommen hat, ist nicht zum Lachen zumute: „Wir wollen Blut sehen!“, ruft er immer lauter, zählt die grausamen Verbrechen der Hamas nacheinander auf. „Sie haben jede Regel der Menschlichkeit gebrochen. Sie müssen vernichtet werden!“
Sohn vor Gaza
Sein Sohn, so erzählt er, sei unter jenen Soldaten, die wahrscheinlich in den kommenden Tagen eine Bodenoffensive in Gaza beginnen werden. „Ich kann nicht mehr schlafen. Die Verluste im Häuserkampf werden extrem hoch. Aber es muss geschehen“, sagt er.
Etwas weiter weg von Yossis Strandlokal liegt eine von unzähligen Stellungen, die die israelischen Verteidigungskräfte ausgehoben und bezogen haben. Aufgeschüttete Erdwälle, Maschinengewehrstellungen. Eine Handvoll Soldaten hat sich hier eingerichtet und ist augenscheinlich froh über etwas Abwechslung: „Niemand von uns will hier sein. Aber wir müssen. Wegen der Gräueltaten der Hamas, weil unser Land von allen Seiten bedroht wird. Lieber würde ich jetzt surfen gehen“, sagt einer der Soldaten. Ein anderer hat ein Kleinunternehmen, das nun seine Frau betreiben muss. „Immer ruft sie an, macht sich Sorgen – und ich genieße hier die Sonne“, scherzt er.
Dass die Lage bedrohlich ist, ist jedem hier bewusst. „Aber kein Mensch kann die ganze Zeit vollkommen konzentriert und angespannt sein“, sagt ein weiterer Soldat.
Jerusalem, Altstadt
Viele gehen mit gesenktem Blick durch das arabische Viertel der Jerusalemer Altstadt. Dort, wo sich sonst Touristen und Pilger drängen, geschäftiges Treiben herrscht, ist es ungewöhnlich still. Immer wieder kontrollieren israelische Sicherheitskräfte Personen, die ihnen verdächtig erscheinen.
Zumeist sind es junge Männer mit arabischem Aussehen. „Das sind eben jene, die die meisten Probleme machen“, sagt eine Soldatin zum KURIER. „Nach Corona haben wir uns gut erholt, aber jetzt wird es wieder sehr kritisch, sagt ein palästinensischer Kleiderhändler. Über die aktuellen Ereignisse will er nichts sagen, außer „Katastrophe“. Er müsse seine Familie ernähren, Politik sei ihm egal.
Beten und Kämpfen
Etwas weiter durch die engen Gassen und eine Kontrolle durch israelische Sicherheitskräfte offenbart sich die Klagemauer, wo Hunderte Juden beten. Etwa Ephraim, jenseits der siebzig – wacher Blick, kantiges Gesicht. Auf die Frage, wie er die Lage einschätzt, antwortet er: „Sehen Sie nach in der Bibel, der Thora – es gab immer Könige, Fürsten, Premiers, die sich zurückgelehnt haben, während die jungen Männer und Frauen in den Tod gegangen sind. Das ist Politik. Ich kann nur beten, dass wir Menschen endlich verstehen, dass wir von einem Gott geschaffen wurden. Das ist meine Aufgabe. Das Töten ist jene der Soldaten“, sagt er. Daneben betet ein Offizier der IDF. Ephraim umarmt ihn, wünscht ihm alles Gute für seinen Einsatz.
Am Ausgang der Altstadt stehen fünf Soldatinnen und Soldaten hinter einem mobilen Absperrgitter – wie an jeder Ecke. Die 21 Jahre alte Shirin wäre jetzt gerne woanders, vor Gaza: „Viele meiner Kameradinnen bereiten sich derzeit auf die Bodenoffensive vor. Und ich muss hier Wache schieben“, klagt sie. „Auch ich will die Hamas für ihre abscheulichen Verbrechen bestrafen.“
Boaz wirft seine Angelrute aus. Der elfjährige Bub steht auf einem Kai in Haifa und widmet sich seinem Lieblingshobby. „Die Schule fällt ja aus, weil alle einberufen wurden und so haben wir nur Zoom-Stunden, in denen wir über die aktuelle Lage reden“, sagt er. „Aber jetzt denke ich einmal nicht daran.“
Das tun am Strand von Haifa einige: Weiter draußen warten Dutzende Surfer auf gute Wellen, am Strand liegen die Menschen in der Sonne. Auch Rachel und ihre Freundin haben es sich gemütlich gemacht, essen Hummus und Brot. „Wir haben uns freiwillig für die Versorgung der Soldaten gemeldet, machen den ganzen Tag Sandwiches, stellen Lunchpakete zusammen – jetzt brauchen wir auch einmal eine Pause“, sagt Rachel. Haifa sei eine sichere Stadt, in der Juden und Muslime gut zusammenleben würden. „Und bisher gab es nur einen Raketenalarm – und der war ein Versehen.“
Hier am Strand könne man sich von der Lage im Land ablenken, „und das ist auch wichtig, sonst drehen wir durch“, sagte Rachel.
Aschkelon, nahe Gaza
Der bunte Bus will nicht zu den Panzern und Infanteriefahrzeugen passen, die die Israelischen Verteidigungskräfte in der Nähe des Gazastreifens zusammengezogen haben.
Aus den Boxen am Dach erschallt israelischer Pop mit lautem Bass. Daneben stehen fünf junge Männer mit Kippa und Schläfenlocken. Einer hat eine Ukulele in der Hand, ein anderer diskutiert mit einem IDF-Soldaten, ein weiterer holt Säcke voll Trinkwasser und Lebensmittel aus dem Bus. Love and Peace gegen den Krieg? „Nein! Friedliche Unterstützung für unsere Soldaten“, lacht einer der jungen Männer, ehe der Soldat beschließt, dass ihm Hippies und Journalisten zu viel sind und er Letztere höflich, aber bestimmt, zum Gehen auffordert. Fotos sind keine erlaubt – „aufgrund der militärischen Sicherheit“.
Einige Minuten später rast auch der Bus in Richtung Aschkelon, einer 40.000-Einwohner-Stadt, etwa elf Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Der Großteil der Menschen hat Aschkelon nach dem brutalen Terrorangriff am 7. Oktober verlassen. Nach wie vor beschießt die Hamas die Stadt mit Raketen. Auf einer Bank am Kai sitzen zwei Männer, starren auf das Meer hinaus. Schweigen.
Die Strandlokale, wo sonst dichtes Treiben herrschte, sind geschlossen. Einsam sitzt ein Mann am Tisch eines verlassenen Nobelrestaurants, vor sich eine fast leere Flasche Whiskey. „Ich fühle mich wie in einer Geisterstadt, aber ich will nicht gehen“, sagt Zoe, die in einem Kiosk nebenan arbeitet. „Ich brauche eine Routine. Und ich brauche meinen Lohn“, setzt sie nach. Vor etwa einer Stunde schlug einen Häuserblock weiter eine Rakete ein. Sie bejaht es mit einem Achselzucken. „Bombardements sind wir gewohnt.“
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