„Ihr Europäer unterstützt Israel, weil ihr euch schuldig fühlt. Eure Enkel werden uns unterstützen, weil sie sich schuldig fühlen werden“, poltert der Mann. Sein Nebenmann ergreift das Wort: „Ich bin Christ, aber als Palästinenser gelte ich für Israel dennoch als Terrorist“, sagt er und stellt sich als Issa Kassis, Bürgermeister von Ramallah, vor.
"Hier entlädt sich jahrehntelang aufgestaute Wut"
Er zeigt Verständnis für die Demonstrationen der vergangenen Nacht: „Die Menschen sind wütend. Sehr wütend. Und sie haben jedes Recht dazu. Wir leben unter Besatzung, jeden Tag werden Leute in der West Bank erschossen. Hier entlädt sich eine jahrzehntelang aufgestaute Wut“, sagt er.
Auf die Frage, ob nun mit noch blutigeren Ausschreitungen im Westjordanland zu rechnen sei, antwortet Kassis, er sei der Überzeugung, es sei besser, für sein Land zu leben anstatt dafür zu sterben, „doch immer mehr junge Menschen hier denken anders“. Zum blutigen Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober sagt Kassis: „Ich verstehe es, dass sich Menschen bewaffnen und sich wehren. Haben sie Hunderte Menschen getötet? Ja. Haben die Israelis Hunderte Menschen getötet? Ja.“
Über die Wut der nächtlichen Demonstranten auf die Palästinensische Autonomiebehörde meint Kassis: „Natürlich hätte Mahmud Abbas den Menschen sagen können, dass sie sich bewaffnen und zu den Grenzposten gehen sollen. Hat er aber nicht. Wir bevorzugen Anzug und Krawatte und Gespräche anstatt Waffen und Kampf.
Aber niemand sieht uns, niemand nimmt uns ernst. Die Menschen hier werden hoffnungsloser und wütender. Und so ist das Risiko hoch, dass auch das Westjordanland eines Tages von der Hamas beherrscht wird.“ Seit 2006 hat die regierende Partei Fatah nicht mehr wählen lassen – aus Angst, die Hamas werde auch hier die Macht übernehmen. Eine Angst, die nicht unbegründet scheint.
➤ Mehr lesen: Palästinenser, aber Feinde der Hamas - Wer ist die Fatah?
Immer wieder liegen rauchende Reste der nächtlichen Barrikaden auf der Straße: Reifen, Müllcontainer, Stühle. In den wenigen offenen Läden drängen sich die Menschen, versorgen sich mit Säcken von Lebensmitteln. Man grüßt einander verhalten, aber freundlich – doch was die kommenden Tage, Wochen, Jahre, bringen werden, das weiß keiner.
Kommentare