IS in Afghanistan: Gemeinsamer Feind von USA und Taliban
Es wirkt absurd. Die radikalislamischen Taliban übernehmen die Macht im Land – und die radikalislamische Terrormiliz "Islamischer Staat" verübt einen Anschlag. Auf den ersten Blick eine unlogische Folge. Doch für Terrorismusexperten keine Überraschung.
"Der IS ist die einzige Gruppe, die ein Interesse an einem solchen Anschlag hat", sagt der französische Dschihadismus-Experte Wassim Nasr im Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin Spiegel. "Denn damit demonstrieren die IS-Kämpfer, dass die Taliban nicht in der Lage sind, die Stadt, die sie erobert haben, unter ihre Kontrolle zu bringen."
"Wir werden euch jagen" - Anschlag in Kabul fordert über 90 Menschenleben
IS-Ableger
Der Ableger des "Islamischen Staates", den die Amerikaner für die tödlichen Selbstmordanschläge vom Donnerstag vor dem Flughafen von Kabul mit rund 90 Toten verantwortlich machen, bei dem auch 13 US-Soldatinnen und Soldaten ihr Leben verloren haben, hat sich vor sechs Jahren im Osten Afghanistans gebildet. Er nennt sich ISIS-K (Islamischer Staat Provinz Khorasan) und hat sich schnell zu einer der gefährlicheren globalen Terrorbedrohungen entwickelt. Khorasan ist die historische Bezeichnung für eine Region in Zentralasien, die unter anderem Teile der heutigen Staaten Afghanistan, Pakistan und Iran umfasst.
Trotz jahrelanger militärischer Angriffe durch die US-geführte Koalition in Afghanistan hat die Gruppe überlebt. Viele ihrer Angriffe haben dazu beigetragen, die USA und andere NATO-Partner aus Afghanistan zu vertreiben – und die Taliban zurück an die Macht zu bringen. Umgekehrt hat die Gruppe wohl profitiert, als die Taliban in den vergangenen Wochen Dutzende Häftlinge aus den Gefängnissen freigelassen hat.
Dennoch distanziere sich die Terrormiliz von den Taliban, sagt Terrorismusexperte Nasr. Nicht zuletzt deshalb, weil diese seit Tagen tolerieren, dass Afghanen in Flugzeugen außer Landes gebracht werden. Das empfänden viele im Land als "Verrat".
Taliban versus IS
Bei den Explosionen vor dem Flughafen von Kabul sollen unter den Toten mindestens 28 Taliban-Mitglieder sein. Die Terrormiliz IS ist auch für die Taliban ein gefährlicher Gegner.
Obwohl es sich sowohl beim IS als auch bei den Taliban um sunnitische Extremisten handelt, bestehen zwischen beiden Gruppen Differenzen in religiösen und strategischen Fragen. In Erklärungen des IS wurden die Taliban als "Abtrünnige" bezeichnet. Beide Gruppen führten auch blutige Kämpfe gegeneinander, aus denen die Taliban weitgehend als Sieger hervorgingen.
Der IS übte auch scharfe Kritik an dem im Februar 2020 geschlossenen Abkommen der Taliban mit den USA, in dem Washington einen vollständigen Truppenabzug aus Afghanistan zusicherte. Die Taliban hätten damit die Ziele des Jihad verraten, erklärte der IS. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul erhielten sie Glückwünsche von verschiedenen dschihadistischen Gruppen, nicht aber vom IS, der ankündigte, seinen Kampf fortzusetzen.
USA: Zweckbündnis mit den Taliban
Biden erklärte mit Blick auf ISIS-K, die USA hätten Informationen dazu, wo sich die Drahtzieher der Anschläge aufhalten - und würden auch ohne große Militäreinsätze Möglichkeiten finden, diese zur Rechenschaft zu ziehen, "wo auch immer sie sind". Seine eindringlichen Worte an die Terroristen: "Wir werden nicht vergeben. Wir werden nicht vergessen."
In welcher Form die USA nun weiter in Afghanistan Anti-Terror-Krieg führen werden, ist auch den meisten Experten nicht klar. Wenn man nicht am Boden ist, wird man weiter mit Drohnen kämpfen? Eines ist klar: Um den IS-Ableger in Afghanistan zu bekämpfen, muss man wohl mit den Taliban zusammenarbeiten – die bis dato als Feind gegolten hatten.
Schon in den vergangenen Tagen stand man unter regem Kontakt mit den Islamisten, die jetzt das Land regieren. Nicht zuletzt, um die Evakuierungsmission zu ermöglichen. Während die US-Marines den internationalen Flughafen von Kabul kontrollierten, bildeten die Sicherheitskräfte der Taliban den "äußeren Sicherheitsring" vor dem Airportgelände. Wer zu den Gates wollte, musste ihre Checkpoints passieren. Dazu sollen die US-Kräfte sogar Listen mit Namen der zu Evakuierenden an die Islamisten weitergegeben haben.
Das Weiße Haus hat aber auch eingeräumt, in den vergangenen Tagen ausgewählte Geheimdienstinformationen mit den Taliban geteilt zu haben – und sich dafür heftige Kritik eingetreten. Das sei aber notwendig, rechtfertigte General Kenneth McKenzie von der US-Armee nach dem Anschlag. Immerhin garantiere die Gruppe den USA die störungsfreie Evakuierung ihrer Staatsbürger und Alliierten aus Kabul bis 31. August.
Am Donnerstag aber hat es offenbar eine Sicherheitslücke gegeben. Ob die Taliban-Checkpoints von den IS-Terroristen unbemerkt passiert wurde, oder ob jemand bei den Taliban mit dem IS kooperiert hat, war vorerst nicht bekannt.
"Vertrauen" sei ein starkes Wort, sagte McKenzie am Donnerstag auf die Journalistenfrage, ob man als USA den Taliban vertrauen könne. Aber man müsse sich in einer Krisensituation an die Gegebenheiten anpassen. An derartige Zweckbündnisse muss man sich wohl in Zukunft bei der US-Politik in Afghanistan (wieder) gewöhnen.
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