US-Präsident Biden: "Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht"

U.S. President Joe Biden delivers remarks about Afghanistan, in Washington
Auch 12 US-Soldaten unter den Opfern des Anschlags am Flughafen von Kabul. Geheimdienste hatten vor einer Terrorattacke gewarnt. Biden: "Wir werden die Mission zu Ende führen."

"Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht", sagte US-Präsident am Abend eines, wie er sagte, "harten Tages". "Wir werden euch jagen und ihr werdet bezahlen!" Diese Worte richtete er von Washington aus an jene Terroristen, die für die Anschläge am Donnerstag in der afghanischen Hauptstadt verantwortlich sind.

"Wir werden euch jagen" - Anschlag in Kabul fordert über 90 Menschenleben

Bei dem Anschlag am Kabuler Flughafengelände und nahe eines Flughafenhotels, zu dem sich die Terrormiliz "Islamischer Staat" bekannt hat, sind mehrere Menschen getötet worden. Laut einem Sprecher der afghanischen Gesundheitsbehörde sollen nach mehreren Explosionen mindestens 90 Todesopfer zu beklagen sein, mehr als 150 Verletzte. Es gab Befürchtungen, dass die Zahl der Todesopfer noch signifikant ansteigt. Auf Videos waren Dutzende Opfer zu sehen.

Eine der Detonationen, die vom Pentagon-Pressesprecher John Kirby auf Twitter bestätigt wurden, habe sich am Abbey Gate zum internationalen Flughafen der afghanischen Hauptstadt ereignet, ein südliches Tor, nahe dem von den Taliban kontrollierten Haupteingang. Danach folgten Schüsse. Eine weitere Detonation hat sich beim Baron Hotel nahe dem Flughafengelände ereignet.

Am Abend bestätigte das Pentagon, dass auch zwölf amerikanische Soldaten und Soldatinnen unter den Todesopfern sind. General Kenneth McKenzie sagte in einer Pressekonferenz des US-Verteidigungsministeriums, dass außerdem 15 US-Soldaten und Soldatinnen verletzt wurden. Mit Tränen in den Augen bedankte sich Joe Biden am Abend bei den "Helden", die auf der "selbstlosen" Mission in Afghanistan gestorben sind und erinnerte an seinen Sohn Beau Biden, der selbst als US-Soldat gedient hatte und später an Krebs gestorben ist.

Die Attacke aber ändere nichts an der Mission, möglichst viele Menschen aus Kabul in Sicherheit zu bringen, so der US-Präsident. "Wenn die Armee mehr Kräfte braucht, werde ich es zulassen", sagte Biden, doch die Befehlshaber hätten ihm versichert, dass sie die Evakuierung so durchführen werden wie geplant - also bis zum 31. August.

Kooperation mit den Taliban

Mindestens ein Selbstmordattentäter habe sich Zugang zum „Abby Gate“, einem Tor zum Flughafen, verschafft – er muss dabei zumindest einen Taliban-Checkpoint passiert haben, schilderte der US-General Kenneth McKenzie vor Journalisten. Ob die Taliban den IS-Terroristen übersehen haben oder absichtlich durchließen, könne man  nicht beurteilen. Man teile – begrenzt – Geheimdienstinformationen mit der Taliban-Führung, um die Evakuierungsmission aus Kabul möglichst sicher zu gestalten, so der General. "Wir erhoffen uns von den Taliban Schutz", sagte der General. Immerhin habe man kurzfristig dasselbe Ziel: Den Abzug der internationalen Truppen bis 31. August.

Das bekräftigte später auch Präsident Biden. "Die Taliban sind keine guten Typen", sagte er auf die Journalistenfrage, ob man mit der Gruppe kooperieren wolle. "Aber sie wollen den Flughafen offen halten und die Wirtschaft erhalten, auch sie haben Gründe, sich an uns und andere zu wenden." Man zähle auf das "Eigeninteresse" der Gruppe.

 

"Ich trage Verantwortung"

Nach stundenlanger Spekulation hatte sich der IS zu dem Anschlag bekannt. Die US-Behörden vermuteten den Ableger IS-Chorassan hinter dem Angriff. "Wir sind ziemlich sicher, wer die Verantwortlichen sind", sagte Präsident Biden am Abend. "Wir werden sie finden." Man werde mit "Kraft und Präzision" gegen sie vorgehen.

Auf die Frage, ob er selbst Verantwortung trage sagte Biden: "Ich trage Verantwortung." Er stehe zu seiner Entscheidung, die Truppen abzuziehen. Doch der Ex-Präsident (Donald Trump) habe den Deal mit den Taliban gemacht, dass die USA abziehen werden. Ohne diesen Deal sei man nicht da, wo man jetzt ist, implizierte Biden.

Doch eines sei klar: "Es war Zeit, einen 20 Jahre alten Krieg zu beenden", so Präsident Biden abschließend.

"Helfen Sie mir!"

Die Sicherheitslage rund um den Flughafen hatte sich am Donnerstagvormittag noch einmal deutlich zugespitzt. Die deutsche Botschaft in Afghanistan und andere Stellen hatten vor einer Terrorgefahr gewarnt. Die US-Botschaft hatte US-Bürger, die sich am Abbey Gate, East Gate oder North Gate aufhielten, in der Nacht zu Donnerstag dazu aufgerufen, das Gebiet „sofort“ zu verlassen. Großbritanniens Staatssekretär im Verteidigungsministerium, James Heappey, sprach noch am Donnerstagmorgen von der Drohung eines „ernsthaften, unmittelbaren, tödlichen Angriffs“ binnen Stunden auf den Flughafen oder die von westlichen Truppen genutzten Zentren. Mit ein Grund, warum sich die internationalen Truppen aus der afghanischen Hauptstadt bis spätestens 31. August zurückziehen wollten.

Die USA und Deutschland hatten die vor den Toren des Airports Ausharrenden noch kurz vor der Explosion aufgefordert, nach Hause zu gehen, es sei zu gefährlich. Doch die Allermeisten blieben. In einem Video sah man Menschen mit Dokumenten in der Hand winken. Sie riefen „Help me!“ (Helfen Sie mir)  und standen Schulter an Schulter in der prallen Sonne, auch Frauen und Kinder. Alle wollten sie noch einen der Flüge in die Freiheit ergattern, denn die meisten Staaten beenden gerade ihre Operationen vor Ort, am Dienstag soll auch der letzte US-Soldat abziehen, dann ist Schluss mit Flügen aus Kabul – und die Afghanen sind ihrem Schicksal sowie den Taliban überlassen.

Terror könnte dann ihre Zukunft prägen, wie namhafte Experten meinen. Die größte Gefahr gehe derzeit vom IS aus, meint  Peter Neumann vom Londoner King’s College. Doch auch El Kaida würde mitmischen, erläutert Guido Steinberg, Terrorismus-Experte an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.  Das Terrornetzwerk ist laut UNO  in fast der Hälfte der afghanischen Provinzen aktiv.  Und habe jetzt Oberwasser: Sie fühlten sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass die „Ungläubigen“ des Westens besiegbar seien, wenn man nur lange genug standhaft bleibe. „Das ist ein Weckruf für die globale dschihadistische Bewegung“, warnt Steinberg.

Evakuierungsmission wackelt

Das US-Verteidigungsministerium trat indes Befürchtungen entgegen, die Evakuierungsflüge der USA am Flughafen in Kabul könnten bereits mehrere Tage vor dem geplanten Abzug der amerikanischen Truppen enden. „Die Evakuierungsoperationen in Kabul werden nicht in 36 Stunden abgeschlossen sein“, twitterte Pentagon-Sprecher John Kirby. Die USA wollten bis zum Ende der Mission weiter „so viele Menschen wie möglich evakuieren“. Bis zum Monatsende am kommenden Dienstag wollen die USA ihre Truppen aus Kabul abziehen. Laut US-Angaben wurden von den USA und ihren Alliierten seit dem 14. August 104.000 Menschen evakuiert.

Belgien, Dänemark, Polen, Kanada und Deutschland stellten die Evakuierungen bereits ein, die Niederlande planten das noch für Donnerstag, Frankreich für Freitag. Die drei deutschen Flugzeuge hoben nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur am Abend (Ortszeit) vom Flughafen Kabul aus mit dem Ziel Taschkent in Usbekistan ab. Die Bundeswehr hat damit am Donnerstag mit insgesamt vier Maschinen Schutzbedürftige und Soldaten dieses Einsatzes ausgeflogen. Wie das österreichische Außenministerium in Wien mitteilte, arbeite das Krisenteam vor Ort weiterhin vehement daran, Österreicher und Afghanen mit einem Aufenthaltstitel in Österreich zu retten. Kritik an den Rettungsmaßnahmen gab es seitens der SPÖ.

Die Innenminister der Europäischen Union werden am Dienstag bei einem Krisentreffen die Konsequenzen aus den Entwicklungen in Afghanistan beraten. Dabei gehe es um Sicherheit und Immigration, teilte die slowenische Ratspräsidentschaft mit.

Weitere Fluchtwege gesucht

Ein Hoffnungsschimmer freilich bleibt ausreisewilligen Afghanen auch nach dem 31. August, wenn der Airport dann an die Taliban fällt. Das Management und die zivile Verwaltung könnte von den Türken durchgeführt werden, der Flughafen also operativ bleiben:  „Nach dem Abzug unseres Militärs können wir den Betrieb des Flughafens dort (zivil) fortsetzen. Natürlich werden Bedingungen und Details noch besprochen, aber es gibt eine Anfrage (der Taliban)“, sagte Ibrahim Kalin, der Sprecher  des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Für Ankara ergäbe sich damit die Möglichkeit, im Land am Hindukusch weiterhin präsent zu sein. Dies passt  zur bisherigen Ostpolitik Erdoğans, der schon vor langer Zeit  Kontakte zu den verwandten Turkvölkern der Region etabliert hat, zu denen etwa auch die Tadschiken in Afghanistan gehören.  Und nach dem Abzug des Westens würde die Türkei neben China und Russland zu den drei wichtigsten  internationalen  Player im Land am Hindukusch zählen.

Den Afghanen, die den Taliban und der Terrorgefahr entkommen wollen, bleibt auch noch eine zweite Option: Die private US-Firma Blackwater fliegt Menschen aus Afghanistan um jeweils 6.500 Dollar aus. Das Unternehmen ist bekannt für seine waghalsigen Operationen, selbst die US-Army griff im Irak- und Afghanistan-Krieg  auf seine Dienste zurück.

Unterdessen verlassen immer mehr Afghanen ihr Heimatland in Richtung Pakistan. Aktuell überquerten jeden Tag mindestens 10.000 Afghanen die Grenze, so ein Grenzbeamter. Zuvor seien es an normalen Tagen etwa 4.000 gewesen.

Südkorea teilte mit, dass das Land knapp 400 Afghanen aufnimmt. Die Türkei betonte, keine weiteren Flüchtling aufzunehmen. Man sei „niemandes Flüchtlings-Lagerhalle“, urgierte Präsidentensprecher Ibrahim Kalin.
Die Innenminister der Europäischen Union werden am Dienstag bei einem Krisentreffen die Konsequenzen aus den Entwicklungen in Afghanistan beraten. Dabei gehe es um Sicherheit und Immigration, teilte die slowenische Ratspräsidentschaft mit.

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