"Afghanistan wird von der Welt vergessen werden"

„Jetzt spricht die Welt über Afghanistan. Bald wird es niemanden mehr interessieren, was mit diesem Land geschieht“
Masomah Regl, Österreicherin mit afghanischen Wurzeln, erzählt von den Sorgen um ihre Familie unter der Herrschaft der Taliban.

Ein Album mit Familienfotos. Fröhliche Kindergesichter, eine ganz normale Familie. Wären da nicht Sätze wie dieser: "Das ist mein Cousin. Er starb bei einer Bombenexplosion."

Masomah Regl, 35, Oberösterreicherin, lebt mit Mann Franz und Sohn Jakob in der Steiermark. Arbeitet als Dolmetscherin, spricht sieben Sprachen und hat wohl Glück gehabt.

Kann man aber von Glück sprechen, wenn man im afghanischen Kabul als Mädchen, als Halbwaise, in eine Familie der Hazara, einer seit Jahrhunderten verfolgten schiitischen Minderheit, hineingeboren wird? In bitterster Armut mit vier Geschwistern aufwächst und bei einem Raketenanschlag ein Bein verliert? Drei Familienmitglieder starben damals, sieben wurden verletzt. Eine deutsche Hilfsorganisation hat Masomahs Leben gerettet. Die Erinnerung ist lebendig. "Ich bin ohne Bein aufgewacht. Aber ich war ein Kind, ich habe im Moment gelebt und nicht viele Fragen gestellt. Nicht im Kopf und nicht im Herzen. Ich war sehr anpassungsfähig und habe das in Zukunft auch sein müssen."

Mit acht Jahren wird sie von österreichischen Eltern adoptiert, hat nun zwei Mamas. Eine in Oberösterreich, eine in Afghanistan. Mit der einen spricht sie oberösterreichischen Dialekt, mit der anderen afghanisches Dari.

"Afghanistan wird von der Welt vergessen werden"

Als Angehörige einer Minderheit besonders in Gefahr: Masomah Regls Familie in Afghanistan

Die Zurückgelassenen

Die Sorge um die Familie in Kabul prägt Masomahs Kinderleben. "Ich hab nie unbeschwert sein können in dieser kleinen österreichischen Welt." Und doch gibt es viele gute Momente. An den Wänden die Bilder von Familienausflügen und Reisen. Jakob, Franzi, Masomah, hier und jetzt in diesem kleinen Dorf, in diesem Haus in diesem gemütlichen Wohnzimmer, in dem die sanfte Unordnung einer Jungfamilie mit Kind herrscht. Jakob, eineinhalb, schläft, man hört ihn durch das Babyphone im Schlaf zufrieden seufzen. Draußen scheint die Sonne. Es sieht nach Glück hier aus.

Immer wieder wird das Gespräch unterbrochen von Videobotschaften, die ihr Bruder schickt: Kugelhagel auf den Straßen von Kabul. Die kurzen Videos sind Hilferufe der in Afghanistan Zurückgelassenen.

All ihre Gedanken kreisen darum, die Mutter, den Bruder und die Schwester mit ihrer Familie aus der Hölle der Taliban zu holen. Ihre Nichten und Neffen, nur wenig älter als ihr Sohn, sollen nicht unter dieser Schreckensherrschaft groß werden.

"Afghanistan wird von der Welt vergessen werden"

Die vermeintliche Verhandlungsbereitschaft der Taliban? Lügen. "Jetzt spricht die Welt über Afghanistan. Bald wird es niemanden mehr interessieren, was mit diesem Land geschieht. Es wird in Ruinen, Armut und Isolation verfallen und von der Welt vergessen werden." Die Taliban scheinen Kreide gefressen zu haben. "Sie haben rhetorisch dazu gelernt. Doch man darf ihnen nicht glauben. Das sind Terroristen, die unschuldige Menschen töten. Unsere Nachbarn in Kabul wurden am Dienstag erschossen – weil sie ihr Auto nicht hergeben wollten."

Die Verfolgung der ethischen Minderheiten, der Bürgerkrieg, die erste Schreckensherrschaft der Taliban, die bittere Armut. Und jetzt die Rückkehr des Mittelalters. Aber man bekommt keine Routine im Schrecken, im Leid und in der Sorge.

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