Iranische Nobelpreisträgerin: „Der zivile Protest ist der erfolgreichere Weg“
Vor genau acht Monaten ist die bisher hartnäckigste Protestbewegung in der Geschichte der Islamischen Republik seit 1979 entflammt – Ihr Ziel: Der Sturz des repressiven Mullah-Regimes. Hunderte Demonstranten wurden seither getötet, Tausende sitzen unter unvorstellbaren Bedingungen in Haft. Shirin Ebadi über den Mut der Iranerinnen, über klerikale Demokratien und über Allianzen für ein gemeinsames Ziel.
KURIER: Im Iran findet gerade eine brutale Hinrichtungswelle statt, es gibt noch immer Giftgas-Anschläge auf Mädchenschulen, aber man hört kaum mehr von größeren Demonstrationen gegen das Regime. Wurde die Protestbewegung, die im Herbst entflammt ist, erstickt?
Shirin Ebadi: Der Aufstand ist auf keinen Fall erstickt, er nimmt andere Formen an. Nachts werden auf den Straßen Parolen gegen das Regime gerufen und tagsüber erheben Arbeiter und Gewerkschaften ihre Stimme, um ihre Rechte einzufordern. Die Welle von Verhaftungen und Hinrichtungen sind Einschüchterungsmaßnahmen, um Angst zu schüren. Allein die Tatsache, dass die Regierung Angst schüren muss, bedeutet, dass der Widerstand noch aktiv ist.
Bilder aus dem Iran zeigen, dass immer mehr Frauen sich dem Kopftuchverbot widersetzen. Wie erfolgreich kann dieser zivile Widerstand sein?
Er wird auf jeden Fall erfolgreich sein. Dieses Verhalten zeigt, dass die Bevölkerung nicht aufgehört hat sich zu wehren. Die Frauen sind bereit, sich der Gefahr der willkürlichen Festnahme auszusetzen und gehen diesen Widerstand mit sehr großem Mut an. Der zivile Protest ist der erfolgreichere Weg, denn hätte die Bevölkerung mit Gewalt ihr Verlangen ausgedrückt, wäre es für die Regierung einfacher gewesen, mit Gewalt zurückzuschlagen.
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Woher nehmen die Frauen überhaupt diesen Mut ohne Hijab auf die Straße zu gehen, zu singen, zu tanzen, wenn sie dabei Haft, Folter und Tod riskieren?
Dafür gibt es mehrere Faktoren: Einer davon ist der Glaube an das Ziel, das sie erreichen wollen und sie wissen, dass sie für diesen Widerstand auch den notwendigen Preis zahlen müssen. Zweitens haben es die Frauen satt – da geht es nicht nur um das Kopftuch, sondern um die systematischen Benachteiligungen von Frauen in vielerlei Hinsicht und vor allem in der Gesetzgebung.
Sie haben sich in der Vergangenheit für eine klerikale Demokratie ausgesprochen. Glauben Sie heute noch daran, dass Religion am Schalthebel der Macht funktionieren kann?
Das ist ein Missverständnis. Die Islamische Republik hat im Namen der Religion die Freiheit abgeschafft und jeder Widerstand wird mit der Religionskeule unterdrückt. Der Islam kann wie jede andere Religion unterschiedlich interpretiert werden. Ein Blick auf andere islamische Länder zeigt diese unterschiedlichen Interpretationen. Ein Beispiel wären Indonesien oder auch Malaysien – die sind dort auch Moslems: Die demokratische Form, aber auch die Lage der Menschenrechte ist dort ganz anders als im Iran, wo jede Unterdrückung im Namen des Islam gerechtfertigt wird.
Ich habe gesagt, mit einer angemessenen Interpretation des Islam ist eine Demokratie möglich. Religion darf aber nicht für die Unterdrückung des Volkes instrumentalisiert werden. Eine Voraussetzung für Demokratie in jedem Land ist eine Loslösung von Ideologien, ob religiös oder nicht. Es sei denn es gibt Wahlen, wie 1979 im Iran, wo für einen religiösen Staat gestimmt wurde. Dann ist wichtig, dass man die Religion unter diesen Umständen nicht für Unterdrückung instrumentalisiert.
Sie sind gegen den Schah und die Monarchie auf die Straße gegangen – im Rahmen der Allianz der Exil-Opposition haben Sie sich dennoch auf eine Zusammenarbeit mit dem Schah-Sohn Reza Pahlavi eingelassen. Wie sehen Sie seine Rolle in der Zukunft der Iraner?
Ich war 1979 gegen die Monarchie. Und 2022 habe ich mich an einer Koalition beteiligt, an der Reza Pahlavi auch beteiligt ist. Diese Allianz bedeutet aber nicht, dass alle, die dabei sind, Monarchisten sind. Bei dieser Koalition wurde eine Charta vereinbart, bei der wir unser gemeinsames Ziel festgelegt haben: Den Sturz des derzeitigen Regimes und dass die Zukunft des Iran durch ein Volksreferendum bestimmt werden soll. Reza Pahlavi hat zugestimmt, dass diese Zukunft nicht monarchistisch sein muss.
Shirin Ebadi (75) wuchs in einer muslimischen, modernen Familie auf und war die erste Richterin in der Geschichte des Iran – doch nach der Islamischen Revolution 1979 wurde sie aus dem Amt getrieben und zur Sekretärin bei dem Gerichtshof degradiert, den sie zuvor geleitet hatte.
Als Anwältin setzte sie sich für Frauen- und Kinderrechte ein – der Kampf gegen die neu eingeführten islamischen Gesetze wurde zu ihrer Lebensaufgabe.
Das Regime beantwortete ihren Einsatz mit Schikanen und Drohungen, sie war mehrere Wochen in Haft. 2003 wurde ihr der Friedensnobelpreis verliehen, den sie ohne Kopftuch entgegen nahm. 2009 ging sie nach Zuspitzung der Lage im Land ins Exil nach London.
Was kann diese Exil-Opposition erreichen?
Der hauptsächliche Widerstand befindet sich im Iran und die Menschen dort entscheiden, was mit der Zukunft des Landes passieren soll. Die Opposition im Exil ist ein Schallverstärker für die Stimme der Menschen, die im Iran zensiert werden.
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Zu Ihren Hauptforderungen und denen der Diaspora gehört, die Revolutionsgarden auf die Terrorliste zu setzen. Was würde das bewirken?
Die Aufgabe der Revolutionsgarden ist laut der iranischen Konstitution das Regime aufrecht zu erhalten – es ist der Schutzarm des Regimes. Als Wirtschaftsmacht kontrollieren sie mehr als zwei Drittel des Staatseinkommens und der Firmen.
Das schwedische Parlament hat nach der Hinrichtung eines iranisch-schwedischen Staatsbürgers nun dafür gestimmt, die Revolutionsgarden auf die Terrorliste zu setzen. Sie haben diese Forderung auch im EU-Parlament vorgetragen – dort wurden bisher nur Sanktionen ausgesprochen. Woran scheitern entschlossene Schritte?
Ich denke, sie haben Angst vor der Nuklearisierung des Iran.
Das Regime wurde vor wenigen Monaten aus der UN-Frauenrechtskommission gekickt. Es gibt immer wieder unfassbare Berichte über Menschenrechtsverletzungen. Trotzdem hat der Iran vorige Woche den Vorsitz des Sozialforums des UN-Menschenrechtsrats bekommen. Wie kann das sein?
Dem Iran wurde der Vorsitz vom Menschenrechtsrat für zwei Tage für diese Versammlung des Sozialforums übertragen. Das ist eine geopolitische Entscheidung. Ich und einige andere Organisationen haben dagegen protestiert.
Sie leben seit 2009 im britischen Exil. Glauben Sie daran, dass Sie in absehbarer Zukunft in Ihr Heimatland zurückkehren können?
Ich weiß, dass ich eines Tages wieder in meiner Heimat leben werde – und das liegt nicht in sehr weiter Zukunft, aber den Zeitpunkt kann man nicht vorhersagen.
Übersetzung: Neda Forghani-Arani
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