In den Krieg gestolpert: Putins überforderte Armee
Militärexperten aus aller Welt zerbrechen sich derzeit den Kopf über den 60 Kilometer langen russischen Konvoi, der sich seit einer Woche nordwestlich von Kiew formiert, und weder nach vorne noch zurück rückt. Ein "sitting target" nennen es Experten, ein ungeschütztes, leicht angreifbares Ziel für jeden Gegner. Kein General würde jemals bewusst seine Kräfte zu einem solchen Vorgehen versammeln, sind sich Strategen einig.
Was ist also der Grund für das Stocken der russischen Armee vor der ukrainischen Hauptstadt?
Die Spekulationen in den Medien reichen von Benzinmangel über veraltete Ausrüstung bis zu fehlender Organisation und Frustration bei den Streitkräften.
Plötzlich Krieg
Während die ukrainische Seite seit der Annexion der Krim 2014 mit westlicher Hilfe ihre Streitkräfte deutlich aufgestockt und den Widerstand gegen eine mögliche russische Besetzung geplant hat, dürfte die zahlenmäßig weit überlegene russische Armee vergleichsweise unorganisiert in den Krieg gestolpert sein. Nicht einmal der russische Geheimdienst selbst soll von Putins Plänen gewusst haben.
"Die russische Armee ist überfordert und in einer prekären Lage", sagt Seth Jones, Politikwissenschafter und Vizepräsident des "Center for Strategic and International Studies" in Washington. In einem solchen Szenario können schwächere Kräfte ihre Vorteile gegenüber stärkeren Gegnern maximieren – "Geländevorteile, lokale Kenntnisse und soziale Verbindungen" heißt das im Fachjargon.
"Ich bleibe in Kiew"
Die fehlende Ortskenntnis der Russen spielt den ukrainischen Streitkräften in die Karten – vor allem, wenn es zu Kämpfen in den Städten kommen sollte. Zuletzt häuften sich Berichte ukrainischer (Staats-)Medien von russischen Dissidenten, die es vorzogen, sich zu ergeben anstatt zur Waffe zu greifen.
Dazu kommt ein nahezu beispielloses Solidaritätsgefühl der Ukrainer, angeleitet vom ukrainischen Präsidenten: Beinahe täglich meldet sich Wolodimir Selenskij, militärgrün gekleidet, in einer Videobotschaft zu Wort. "Ich bleibe in Kiew", sagte er am Dienstag; er werde sich weder verstecken noch habe er vor irgendwem Angst. Russlands Präsidenten Putin forderte er erneut zu direkten Verhandlungen auf.
Ein deutscher General zog im deutschen Sender n-tv eine gewagte Bilanz: In nur zehn Tagen habe Russland ähnliche militärische Verluste erlitten wie zuvor in zehn Jahren Afghanistan – oder die USA in acht Jahren Irakkrieg.
Feuerpause gebrochen
Die ukrainische Armee geht dennoch weiterhin davon aus, dass Moskau all seine Ressourcen für einen Sturm auf Kiew zusammenzieht. Ursprünglich hatte Russland für Dienstag eine Feuerpause verkündet und die Errichtung humanitärer Korridore zur Evakuierung von Zivilisten aus den Großstädten Kiew, Tschernihiw, Sumy, Charkiw und Mariupol bekannt gegeben.
Die Feuerpause dürfte jedoch nicht lange gehalten haben: Während über 3.000 Zivilisten in Autos und Bussen aus Sumy und Irpin gerettet wurden, wurde der Fluchtkorridor aus der belagerten Hafenstadt Mariupol weiterhin beschossen.
200.000 Menschen sitzen nach Angaben des Roten Kreuzes in Mariupol fest und hoffen auf Evakuierung; den städtischen Behörden zufolge sind Strom-, Wasser- und Gasverbindungen gekappt, ein Kind soll im Bunker an Dehydrierung gestorben sein.
Auch die zweitgrößte Stadt Charkiw stand am Dienstag unter konstantem Beschuss. Ziel soll auch zivile Infrastruktur wie Kindergärten, Schulen, Entbindungsstationen und Kliniken gewesen sein.
Ein Großteil der 1,5 Millionen Einwohner ist bereits geflohen; Tausende Menschen harren weiterhin in ihren Kellern aus. Dem Bürgermeister zufolge ist die Stadt nach wie vor in ukrainischer Hand.
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