Warum humanitäre Korridore auch Gefahren bergen
„Die Stadt ist fast zerstört“, sagt eine Frau, „in meinem Viertel sind keine Häuser, die nicht bombardiert wurden.“ Die junge Mutter und ihre zwei Kinder wollten am Dienstag die 50.000 Einwohner-Stadt Irpin bei Kiew, die seit Tagen unter russischem Beschuss steht, in einem Konvoi verlassen. Auch in Kiew selbst sowie in den vier belagerten Großstädten Tschernihiw, Sumy, Charkiw und Mariupol hofften Hunderttausende auf eine Möglichkeit zur Flucht.
Vermeintlich sicher
Nachdem sich die Ukraine und Russland am Tag zuvor auf die Errichtung humanitärer Korridore verständigt hatten, sollten die Bewohner der betreffenden Gebiete am Dienstag zwischen 8.00 und 20.00 Uhr mit Bussen und Privatautos ausreisen können.
Am frühen Nachmittag teilte das Rote Kreuz, das in die Organisation eingebunden war, allerdings mit, russische Truppen hätten die Route von Mariupol nach Saporischschja beschossen.
Auf dieser Route hätten acht Lkw und 30 Busse zunächst Hilfsgüter nach Mariupol liefern und dann Zivilisten aus der Hafenstadt in Sicherheit bringen sollen. In Mariupol lebten zu Friedenszeiten 400.000 Menschen, 200.000 warten derzeit auf eine Ausreise.
Aus Sumy (260.000 Einwohner) gelang offenbar Hunderten Menschen die Flucht über Poltawa in Richtung polnische Grenze. Insgesamt konnten dort und in Irpin rund 3.000 Menschen gerettet werden.
Aus den anderen Städten mit geplanten Evakuierungen gab es zunächst keine Berichte. Laut russischen Angaben soll die Ukraine nur eine von zehn vorgeschlagenen Routen – jene aus Sumy – bestätigt haben. Kiew hatte zuvor kritisiert, dass mehrere der von Moskau vorgeschlagenen Routen nach Russland bzw. Belarus geführt hätten.
Vorwand für Angriffe
Die UNO betrachtet humanitäre Korridore als zeitlich und örtlich begrenzte entmilitarisierte Zonen, denen die Konfliktparteien zugestimmt haben, oft unter Einbindung von NGOs. Über diese Zonen sollen Hilfsgüter und Zivilisten transportiert werden können.
Beobachter sehen die Korridore aber zwiespältig. So könnten sie für Waffenschmuggel missbraucht oder Flüchtende ins Visier genommen werden. Es sei zwar wichtig, Zivilisten aus Städten zu retten, andererseits gebe genau das dem Angreifer einen Vorwand für noch massivere Attacken. Es seien nun nur noch Kämpfer vor Ort, könnte er argumentierten – oder Menschen, die ihre Chance zu gehen nicht genutzt hätten.
Dass derartige Befürchtungen mit Blick auf Russland berechtigt sind, zeigt die Vergangenheit. Sowohl in Tschetschenien als auch in Syrien stimmte Moskau humanitären Korridoren zu, nur um danach die Städte Grozny bzw. Aleppo in Schutt und Asche zu legen.
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