Zwischen Terror und Wohlfahrt: Hisbollahs doppeltes Gesicht im Libanon
Hassan Nasrallah wirkt unruhiger als sonst, als er am 19. September vor die Kamera tritt. Zwei Tage zuvor explodierten Tausende Pager, am Vortag Hunderte Funkgeräte der Hisbollah, töteten und verletzten viele Kämpfer der schiitischen Terrormiliz. „Wichtig ist, dass dieser schwere Schlag uns nicht zu Fall bringt, und wir werden noch standhafter, entschlossener und fähiger werden, um alle Gefahren zu überwinden“, sagt Nasrallah, während israelische Kampfjets über Beirut fliegen.
In den Tagen nach seiner Rede gelingt es Israel, zahlreiche Hisbollah-Kommandanten zu töten – darunter Ibrahim Akil, einen Hisbollah-Mann der ersten Stunde. Und von der ersten Stunde an ist es das Ziel der Hisbollah, Israel zu vernichten.
Blutiger Bürgerkrieg
1975. Es brodelt in der „Schweiz des Nahen Ostens“. Während unter dem christlichen Präsidenten Suleiman Franjieh Korruption und Vetternwirtschaft herrschen, wird die palästinensische PLO immer stärker, unternimmt vom Libanon aus Überfälle auf israelisches Staatsgebiet. Als Palästinenser die Leibwächter eines hohen christlichen Politikers angreifen, attackieren christliche Milizen am 13. April 1975 einen Bus mit palästinensischen Flüchtlingen, töten alle 27 Insassen. Und zünden damit ein Pulverfass.
Im Laufe der nächsten fünfzehn Jahre bricht die Gesellschaft des religiös – und damit auch politisch – zersplitterten Staates auseinander. Doch kämpfen nicht notwendigerweise Christen gegen Muslime oder Schiiten gegen Sunniten. Die Lage ist verworren. Der Schiit Akil schließt sich in jungen Jahren zunächst der schiitischen Amal-Bewegung an. Lange spielten die Schiiten eine untergeordnete Rolle in der libanesischen Politik, die Gründung der Amal („Hoffnung“) sollte das ändern.
Mit der Machtergreifung der Mullahs im Iran 1979 und dem Einmarsch der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) in den Libanon bekommt Amal jedoch bald Konkurrenz: Die Hisbollah wird Anfang der 80er gegründet – und massiv vom Iran finanziert.
Anschläge
Rasch erwerben sich die schiitischen Krieger im Süden des Libanon einen furchteinflößenden Ruf, verüben verheerende Anschläge auf Israelis. Der Krieg im Libanon eskaliert weiter – mit brutalen Massakern auf allen Seiten. Eine multinationale Eingreiftruppe, vor allem aus französischen, britischen und US-amerikanischen Soldaten bestehend, kann dagegen nichts ausrichten. Ein Attentat auf Unterkünfte der Soldaten fordert 1983 307 Menschenleben. Unter anderem soll Ibrahim Akil daran beteiligt gewesen sein – er hat bereits davor die Fronten gewechselt. Weitere blutige Anschläge folgen, die Hisbollah erhält Zulauf, Geld aus Syrien und dem Iran – und wird für die IDF, die vorrangig gegen die PLO vorgegangen war, zum Problem.
Wohlfahrtsstaat
Der „Widerstand gegen die Besatzung“, wie sie es nennen – und wie es nicht nur die libanesischen Schiiten empfinden, gewinnt an Popularität. Nicht zuletzt durch die Sozialleistungen, die vor allem der schiitischen Bevölkerung im Libanon kostenfrei zugutekommen. Familien gefallener Kämpfer bekommen Entschädigungen, die Stromversorgung wird zur Verfügung gestellt – auch die Müllabfuhr wird verbessert.
Nach dem Abkommen von Ta’if, das den libanesischen Bürgerkrieg beendet, bleiben israelische Soldaten im Südlibanon. Die Hisbollah, die sich als „Widerstandsorganisation“ versteht, umgeht dadurch die Pflicht, wie die anderen Milizen ihre Waffen abzugeben. 1992 töten israelische Kampfhubschrauber Hisbollah-Führer Abbas al-Musawi, der charismatische, dreißig Jahre alte Hassan Nasrallah rückt nach – und wird bis heute die Geschicke der Organisation entscheidend prägen.
Die Hisbollah wird auch in der libanesischen Politik zu einem Faktor, versucht unter anderem, politische Annäherungen an den Westen zu verhindern. Für die Legitimation der Hisbollah wird das spätestens mit dem Abzug der israelischen Soldaten im Jahr 2000 wichtig, denn nun fehlt der Grund, bewaffnet zu sein. Über ein breites Netzwerk im Ausland finanziert die Hisbollah die sozialen Projekte, die sie als Gegenentwurf zum von Proporz und Korruption immer unfähigeren libanesischen Staat präsentieren sollen. Schmuggel, Drogenhandel, Waffengeschäfte sowie großzügige Überweisungen aus Teheran machten und machen das möglich.
Der Zweite Libanonkrieg
Als Hisbollah-Mitglieder 2006 eine israelische Patrouille überfallen, zwei Soldaten entführen, bricht der „Zweite Libanonkrieg“ aus. Israel marschiert mit Bodentruppen ein, mit dem Ziel, die Hisbollah zu vernichten. Dieses Ziel erreichen die IDF nicht. Es bleiben Hunderte Tote, ein bombardierter Flughafen Beirut und große Schäden in der libanesischen Infrastruktur. Die Hisbollah inszeniert sich als Schutzschild des Libanon.
Mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs stellt sich die Hisbollah auf die Seite Bashar al-Assads, kämpfen an seiner Seite. Gleichzeitig ist es auch die Hisbollah, die die al-Qaida-nahe Terrororganisation „Hayat Tahrir al Sham“ sowie die Terrormiliz „Islamischer Staat“ aus dem Libanon vertrieb, beziehungsweise abwehrte. „Wir haben den Libanon und Syrien vor Terroristen verteidigt. Trotzdem sind wir nach wie vor bereit, uns gegen Israel zu verteidigen – selbst deren Generale sagen, dass die Hisbollah durch diesen Krieg viel an Erfahrung gewonnen hat“, sagt etwa Hisbollah-Politiker Ammar Mussawi 2018 im KURIER-Interview. Im Zuge der Proteste gegen das gesamte politische System im Libanon Ende 2019 gerät auch die Hisbollah unter Druck.
Der Süden ist gelb
Die Coronapandemie wiederum spielt allen libanesischen Parteien in die Hände: Wenn Lebensmittel im Supermarkt für die durchschnittliche Bevölkerung kaum noch leistbar sind, kümmert sich eben die Partei um ihr Klientel, gibt Essensrationen aus, verschafft Jobs im öffentlichen Dienst. Zu diesem Zeitpunkt ist der Süden des Libanon seit Langem fest in Hisbollah-Hand. Sie agiert als Staat im Staat, baut Häuser für die ärmere Bevölkerung. Dass dort auch Teile des Raketenarsenals gelagert sind, ist Teil des Plans für die nächste Konfrontation. Und die kommt bald. Ab 8. Oktober 2023 bombardiert die Hisbollah fast täglich Israel.
Wie auf Videos zu sehen ist, folgen bei vielen bombardierten Häusern im Libanon sogenannte Sekundärexplosionen – detonieren offensichtlich Raketen. Die Hisbollah hat viele Gesichter, doch zu ihren Hauptzielen gehört die Vernichtung des Staates Israel. Dieses Ziel ist für Nasrallah mit der Tötung fast seiner gesamten Kommandanten in weite Ferne gerückt. Doch aufhören zu existieren wird die „Partei Gottes“ auch nach einer israelischen Bodenoffensive nicht.
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