Dass die Umfrageinstitute IPEC und Datafolha bei Bolsonaro teilweise um zehn Prozentpunkte daneben lagen, ist deswegen so dramatisch, weil das Lager des Präsidenten damit die These von einer Wahlmanipulation weiter vorantreiben könnte. Dass das Bolsonaro-Lager eine hauchdünne Niederlage nicht akzeptieren könnte, ist damit ein Stück wahrscheinlicher geworden.
Lula geht jedenfalls als leichter Favorit in die Stichwahl. Sein eigenes Lager dürfte durch das bessere Bolsonaro-Ergebnis aufgeschreckt und damit bis in die Haarspitzen motiviert sein. Wenn der Ex-Präsident (2003–2011) keinen schweren Patzer mehr macht, dürfte er wohl gewinnen. Lula muss nur noch 1,6 Prozentpunkte dazugewinnen, Bolsonaro braucht immerhin noch zusätzliche 6,8 Prozentpunkte für den Sieg. Die könnten für ihn theoretisch in den acht Prozentpunkten stecken, die sich auf die vier Kandidaten aufteilen, die hinter den beiden politischen Alpha-Tieren ins Ziel gekommen sind.
Warum nun Bolsonaro besser abgeschnitten hat, ist ein heiß diskutiertes Thema. Offensichtlich empfindet ein nicht unerheblicher Teil der Wählerschaft die Lage im Land als nicht so schlimm oder dramatisch, wie sie in nationalen oder internationalen Medien geschildert wird.
Die wichtige Agrar-Industrie fährt Rekordgewinne ein, ebenso der für das volkswirtschaftliche Selbstbewusstsein der Brasilianer so wichtige Erdölkonzern Petrobras, der vor einigen Jahren noch am Boden lag. Die Mordrate ist auf dem niedrigsten Stand seit 2007, die Steuersenkung auf Sprit kommt bei den Leuten ebenso gut an wie die überlebenswichtigen Krisenhilfsgelder in der Höhe von 120 Euro für arme Familien.
Hinzu kommt, dass Bolsonaro ein perfektes Zusammenspiel mit den erzkonservativen evangelikalen Kirchen gelingt. Er liefert mit den Schlagworten „Vaterland, Gott, Freiheit und Familie“ das spirituelle Rüstzeug, sorgt für Steuergeschenke – und die Kirchen werben im Gegenzug für Bolsonaro. Die evangelikale Bischöfin Valnice Milhomens sprach noch am Abend von „Kriegern des Gebets“ und appellierte an die evangelikalen Gläubigen: „Wir müssen alle spirituellen Waffen in Richtung der Wahlen aktivieren.“
Offenbar wiegen all diese Fakten das bisweilen unerträglich vulgär-populistische, teilweise auch rassistische Auftreten des Amtsinhabers auf.
Und dann kommt da auch noch ein Stück weit Unbehagen wegen Lulas politischer Mitverantwortung für die Korruptionsskandale aus der Vergangenheit. Dass Lula einen Großteil ehemaliger Weggefährten oder Figuren aus der „guten alten Zeit“ zurück auf die Bühne geholt hat, ist aus diesem Blickwinkel vielleicht sogar eher ein Nachteil. Ein wirklicher Neuanfang wäre das nicht, eher ein Anti-Bolsonaro-Bündnis.
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