Brasilien zwischen dem "von Gott Gesandten" und dem linken Helden
Bolsonaro gegen Lula, so lautet das giftige Duell bei der anstehenden Präsidentenwahl. Das größte Land Lateinamerikas brodelt.
30.09.22, 21:01
aus Rio de Janeiro Tobias Käufer
Monica Reis (52) ist begeistert. "Das war die beste Entscheidung eines Präsidenten in den letzten 30 Jahren", sagt die Uber-Fahrerin aus Rio de Janeiro. Gemeint ist die drastische Steuersenkung auf Sprit in Brasilien, die das Tanken an der Zapfsäule nun zu einem der billigsten in Lateinamerika macht. Wer Glück hat, kann in diesen Tagen für umgerechnet 95 Cent pro Liter auftanken.
"Ein unverantwortliches Wahlkampfgeschenk auf Kosten der Steuerzahler", wettert dagegen Ölarbeiter Rafael Chagas (56). Er misstraut den Versprechungen jenes Mannes, der die Preissenkungen durchgesetzt hat: Jair Bolsonaro. Der rechtspopulistische Präsident (67) steht am Sonntag erneut zur Wahl. Sein Herausforderer ist Luiz Inácio Lula da Silva (76), der Brasilien von 2003 bis 2011 schon einmal regiert hat. Der beste Präsident der Geschichte finden seine Anhänger; katastrophal, entgegnen die Kritiker.
Die Umfragen sagen einen Sieg Lulas – spätestens in einer Stichwahl am 30. Oktober – voraus. So eindeutig, wie es Lula erhofft, ist die Stimmungslage offenbar nicht. Jüngst konnte Bolsonaro im ganzen Land Hunderttausende Anhänger am Unabhängigkeitstag auf die Straße bringen; unter seinen Wählern ist der Mobilisierungsgrad hoch.
Für Gott und gegen den Kommunismus
Wie hoch, zeigt sich auf der Avenida Atlantica, wo sogar Bolsonaro-Anhänger in die Knie gehen, um zu beten, dass ihr Präsident im Amt bleibt. Auf ihren gelben T-Shirts sind die Worte "Gott, Familie, Vaterland" aufgedruckt. Bolsonaro soll das Land gegen Kommunismus, Unfreiheit, Gender-Ideologie und Abtreibungen verteidigen. Präsidentengattin Michelle Bolsonaro hatte zuvor bereits den Heiligen Krieg ausgerufen: Ihr Mann sei ein von Gott Gesandter, um den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Brasilia gegen die Dämonen zu verteidigen.
Gemeint ist damit Lula, den sie einen "Dieb" nennen – wegen zahlreicher Korruptionsskandale, die in seiner Amtszeit seinen Anfang nahmen (er verbrachte eineinhalb Jahre im Gefängnis). Auf den Plakaten, die zur Demo einladen, steht das Wortspiel "Luladrao" – eine Mischung aus Lula und Ladrao (Dieb). Hier sind sie überzeugt, dass die Umfragen nicht stimmen, die Justiz beim Wahlbetrug hilft und Bolsonaro nur durch Manipulation der elektronischen Urne aus dem Amt gedrängt werden kann. Seine Gegner behaupten, er plane wie Ex-US-Präsident Trump nach dessen Niederlage einen Sturm der Anhänger.
Dann kommt der von "Gott Gesandte" persönlich. Standesgemäß mit einer Motorrad-Karawane, die Bolsonaro selbst anführt. Er richtet die Schlagworte "Gott, Familie, Vaterland" an seine überwiegend evangelikale, fundamental christliche Wählerschaft. Die ist in den vier Jahren weiter gewachsen, ob sie den deutlichen Verlust in der pragmatischen Mitte ausgleiche, bleibt abzuwarten. Die Masse hört ihm fasziniert zu: "Niemals werden wir zu lassen, dass die Fahne Brasiliens rot wird", betont Bolsonaro. Jubel.
Früher alles besser?
Eine knappe halbe Metro-Stunde entfernt hatte sich zuvor Lula feiern lassen. Mehr als zehntausend Menschen waren gekommen, die auf einen Wechsel hoffen. Einige Anhänger tragen tatsächlich rote Mützen, auf denen steht: "Make Lula Great Again." Lula spielt mit dem Gefühl, dass früher – unter ihm – alles besser war.
Tatsächlich erlebte das Land unter dem Linkspolitiker einen wirtschaftlichen Aufstieg. Lula verspricht zumindest eine Null-Abholzungs-Strategie, die Brasilien aus der internationalen Isolation, in die Bolsonaro das Land geführt, herausführen soll. Lula redet über soziale Gerechtigkeit, über die Rechte der afrobrasilianischen und indigenen Bevölkerung. Dass an diesem Abend allerdings nur vier weiße Männer und eine weiße Frau sprechen, kritisiert später die afrobrasilianische Bewegung in Rio. Für das Lula-Lager ist Bolsonaro wegen seiner chaotischen Corona-Politik (700.000 Tote) ein Völkermörder.
"Der Wahlkampf war durch eine polarisierte Stimmung und Angst vor Gewalt, die auf beiden Seiten geschürt wurde, gekennzeichnet, und weniger durch neue Konzepte und Ideen für das Land", sagt Anja Czymmeck, Leiterin der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Brasilien. Tatsächlich vergeht kein Wahlkampfauftritt, wo das gegnerische Lager nicht beschimpft oder beleidigt wird.
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