Grüner Höhenflug in Deutschland: Auf den Boom folgen Bewährungsproben
Mitgliederrekord, Platz eins in den Umfragen. Das Nachrichtenmagazin Spiegel erklärte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz zum „Sankt Martin“, der Stern stilisierte ihn als „Eroberer“, der Angela Merkel aus dem Kanzleramt vertreibt. Wie der Versuch 2017 ausging, ist bekannt. Auf das mediale Hoch folgte der tiefe Fall.
Vier Jahre später ist wieder von einem Rekord bei Partei-Eintritten zu hören, auf dem Cover der Magazine: Annalena Baerbock, deren Partei mit 25 bis 28 Prozent vor CDU/CSU liegt. „Die Frau für alle Fälle“ titelte der Spiegel. Gleichzeitig warnen Beobachter vor einem „Momentum“, das sich aus dem krassen Gegensatz von Union und Grünen speist – während die einen offen um die Machtfrage stritten, gaben sich die Ökos harmonisch. Kommentatoren erinnern wiederum an Schulz – Tenor: Grüne, freut euch nicht zu früh.
Spricht man mit welchen, ist Vorsicht herauszuhören. Denn in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass sie in Umfragen besser abschneiden als am Wahltag. 2011 sahen Meinungsforscher Renate Künast schon auf der Zielgeraden, den beliebten Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) abzulösen.
2021 ist vieles anders
Der Erfolg muss 2021 nicht ausbleiben. Wenn die Menschen im Herbst wählen, steht keine populäre Amtsinhaberin auf dem Zettel, die seit Jahren wiedergewählt wird. Auch sonst ist die Ausgangslage eine andere.
Während sich der Schulz-Hype 2017 auf ein paar Wochen nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten konzentrierte, hat der grüne Rückenwind eine solide Basis. Nach den Erfolgen bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern 2018 wurden sie 2019 bei der bundesweiten EU-Wahl zweitstärkste Kraft. Das Kernthema Klimaschutz war keine Nische mehr. Zudem leisten Annalena Baerbock und Robert Habeck seit Jahren gezielt Vorarbeit in Richtung Regieren, docken auch in der Wirtschaft an. In einer Umfrage unter Führungskräften der Wirtschaftswoche bekam Baerbock mehr Zuspruch als Armin Laschet (CDU), der das industriestarke Nordrhein-Westfalen regiert.
Für Politologin Kerstin Völkl von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg bleibt es spannend zu beobachten, ob sie die Kompetenz weiter ausbauen kann, denn Wirtschaft wird in Corona-Zeiten eines der zentralen Wahl-Themen sein. Auch in puncto Europapolitik hat sich die Grüne einen Namen gemacht. Strategisch ist ihr einiges gelungen, sagt Völkl: „Je stimmiger die Person und das Programm sind, je stärker sie eine Einheit bilden, desto besser verkauft es sich nach außen.“
Schulz hatte damit ein Problem. Die SPD konnte sich lange auf keinen Kandidaten einigen, holte ihn aus Brüssel. Plötzlich war er Chef einer 400.000-Mitgliederpartei, die sich vom Dauerregieren mit der Union entkernt fühlte. Die Erwartungen waren hoch und die Zeit, eine auf ihn maßgeschneiderte Kampagne zu entwerfen, knapp. Er sprach viel von „Gerechtigkeit“, aber wenig von Konkretem. Dazu kamen Landtagswahlen, wo die SPD verlor – „und der Schulz-Zug sein Tempo“, stand in den Kommentarspalten.
Nun haben die Grünen 2021 Baden-Württemberg für sich entschieden und in Rheinland-Pfalz dazugewonnen. Wenn am 6. Juni Sachsen-Anhalt wählt, wird sich zeigen, ob sie im Osten – wo sie traditionell schwach sind – die politische Mitte erreichen können, sagt Politologin Völkl. „Bei den meisten rangieren Umwelt- und Klimaschutz unter ferner liefen.“ Im besten Fall bleiben sie dort in der Regierung. 2016 wurde eine Koalition aus CDU, SPD und Grüne geschmiedet – „ein Zweckbündnis gegen die AfD“. Rein rechnerisch könnte es auch ohne die Grüne gehen, wenn die FDP mit ausreichend Stimmen in das Landesparlament einzieht.
Der Einfluss verlorener Landtagswahlen schlug sich bei Schulz intern nieder. Die 100 Prozent, die ihn zum Kanzlerkandidaten gewählt hatten, standen nicht mehr hinter ihm. Er strampelte sich weiter ab, doch im Tagesgeschäft, konnte er nicht punkten. Schulz war kein Mitglied im Bundestag bzw. wurde die Bühne von Vorgänger Sigmar Gabriel gekapert, der sich nicht davon lösen konnte, den Ton anzugeben – die Selbstzerfleischung der SPD setzte ein.
„Fettnapf“-Themen
Die Grünen müssen ihre Geschlossenheit aufrechterhalten, so Völkl. Die perfekt orchestrierte Nominierung Baerbocks zur Kanzlerkandidatin bekam durch Habecks-Interview in der Zeit („Nichts wollte ich mehr, als dieser Republik als Kanzler zu dienen“) einen leichten Riss. Zudem lauern „Fettnäpfe“, die für öffentliche Kontroverse sorgen können, wie in den Jahren zuvor der Vorschlag für einen gesetzlich festgelegten Vegetarier-Tag (Veggie-Day) oder der Vorstoß der Hamburger-Grünen, die in einem Stadtteil keine Einfamilienhäuser in die Bebauungspläne aufgenommen haben - daraus wurde schnell der pauschale Vorwurf: die Grünen wollen das Eigenheim verbieten.
Und nun gibt es Anträge von Mitgliedern, das Wort „Deutschland“ aus dem Titel des Wahlprogramms zu tilgen, das auf einem Parteitag im Juni beschlossen wird. Die Konkurrenz warf ihnen vor, keine Verbundenheit zum Land zu haben – „solche Aspekte könnten in der bürgerlichen Mitte Einfluss haben“, sagt Völkl. Überhaupt glaubt sie, dass die Auseinandersetzung bald stärker am Programm stattfinden wird.
Wenn nicht gerade das Parteiausschlussverfahren gegen den streitbaren Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer Aufmerksamkeit abzieht – Störfeuer im Wahlkampf müssen also nicht immer nur von außen kommen.
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