Genugtuung in den USA nach Floyd-Urteil
Die Tränen der Genugtuung über den dreifachen Mord-Schuldspruch für den Polizisten Derek Chauvin nach dem gewaltsamen Tod des Schwarzen George Floyd waren noch nicht einmal getrocknet. Da hatte die brutale Wirklichkeit den kurzen Moment der in ganz Amerika zu spürenden Erleichterung über eine als selten empfundene Form der Gerechtigkeit bereits überholt. Während in Minneapolis Richter Peter Cahill am Dienstag das auf jahrelange Haft hinauslaufende Urteil der Geschworenen verlas, starb in Columbus, im US-Bundesstaat Ohio Ma’Khia Bryant.
Das schwarze Mädchen hatte die Polizei angerufen, weil sie laut Tante von anderen Jugendlichen bedroht worden sei. Es kam vor einem Wohnhaus zu einem undurchsichtigen Gerangel. Bryant soll mit einem Messer ein anderes Mädchen bedroht haben. Ein weißer Cop zieht nur Sekunden nach Eintreffen am Schauplatz die Waffe und drückt vier Mal ab. Die 16-Jährige stirbt wenig später im Spital. Die Hintergründe sind noch unklar. Aber wieder stellt sich, ähnlich wie im Fall Floyd, die Frage nach der Verhältnismäßigkeit.
"Wir können wieder Atmen" Reaktionen nach dem Mordurteil im Fall Floyd
Während US-Präsident Joe Biden und seine Vizepräsidentin Kamala Harris in Chauvins Schuldspruch die Chance auf eine „bedeutende Veränderung“ im Jahrhunderte alten Spannungsfeld Rassismus/Polizei sehen, war es an Alt-Präsident Barack Obama, den Etappensieg-haften Charakter des Geschworenen-Urteils zu betonen: „Wahre Gerechtigkeit erfordert, dass wir die Tatsache einsehen, dass schwarze Amerikaner anders behandelt werden, jeden Tag“, sagte der erste schwarze US-Präsident, „wir müssen anerkennen, dass Millionen unserer Freunde, Familienangehörigen und Mitbürger in Angst leben, dass ihre nächste Begegnung mit der Polizei ihre letzte sein könnte.“
Das „tief greifende Umdenken“ bei der Polizei im Umgang mit Schwarzen, das Obama wie Biden einmahnen, hat sich bisher nicht durchgesetzt. Gewiss, in einigen Bundesstaaten sind seit Floyds Tod vor fast einem Jahr Würgegriffe und Fixierungen am Hals bei Festnahmen verboten. Hie und da wird mehr Wert auf Deeskalation gelegt. Durchgreifende Polizei-Reformen in der Fläche aber stocken.
So hat das Repräsentantenhaus bereits vor Monaten das „Georg-Floyd-Gerechtigkeit-in-der-Polizeiarbeit-Gesetz“ mit knapper demokratischer Mehrheit verabschiedet. Es sieht vor, die vor 50 Jahren gesetzlich etablierte „qualifizierte Immunität“, die Polizisten in Ausübung ihres Berufs auch bei fragwürdigem Gewalteinsatz meist vor einer Anklage schützt, zu kippen.
Dagegen laufen Polizeigewerkschaften und Republikaner Sturm. Die Perspektive, nach Gebrauch der Dienstwaffe ins Gefängnis zu müssen, sagen sie, werde die Polizei hemmen, angesichts der Waffenschwemme auf Amerikas Straßen in Lebensgefahr bringen und für mehr Kriminalität sorgen. Im Senat in Washington ist für das Projekt, das Strafrechtler für zentral im Kampf gegen tödliche Polizeigewalt halten, keine gesetzgeberische Mehrheit in Sicht. Obwohl pro Jahr in den USA rund 1.000 Menschen durch Polizeihand sterben, darunter überproportional viele Afroamerikaner.
"Qualifizierte Immunität"
Die Hoffnungen ruhen nun auf „Zugpferden“ unter den 18.000 autonom handelnden Polizei-Direktionen im Land. So hat New York City gerade per Stadtratsbeschluss die „qualifizierte Immunität“ gekippt. Werden weitere Metropolen folgen? Im Kongress in Washington sind sich Vertreter beider Parteien insgeheim einig: Der Schuldspruch gegen Chauvin hat den Druck für Polizei-Reformen eher gesenkt, nicht, wie Präsident Biden hofft, erhöht.
Das Strafmaß für Derek Chauvin wird jedenfalls erst in acht Wochen klar sein. Nach den Verurteilungsrichtlinien des Bundesstaates Minnesota wären 29 Jahre die Maximalstrafe. Übt Richter Peter Cahill Nachsicht und „drückt“ den Erst-Täter Chauvin unter zehn Jahre, kann es nach Ansicht von US-Kommentatoren wieder heftige Proteste geben. Eine Berufungsverhandlung ist zudem so gut wie sicher. Und die Verfahren gegen die anderen drei beteiligten Polizisten beginnen erst im Hochsommer.
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