Fünf Gründe, warum Biden aufhören sollte - und fünf für's Weitermachen
Dirk Hautkapp
07.07.24, 17:00Gehen oder bleiben? Weitermachen oder auf die Bremse treten? Joe Biden steht vor existenziellen Fragen. 80 Prozent der Amerikaner halten ihren Präsidenten nach dem verkorksten TV-Duell mit Donald Trump für entschieden zu alt, um erneut für das Weiße Haus zu kandidieren.
In einem weiteren Fernsehauftritt in der Nacht auf Samstag wehrte der US-Präsident sich gegen die Zweifel an seinem geistigen und körperlichen Zustand, vom Tisch sind sie damit aber nicht. Was spricht für, was gegen einen Rückzug Bidens vier Monate vor der Schicksalswahl?
Was für einen Rückzug spricht
Biden verschreckt Wähler und Großspender
Bidens Umfragewerte (unter 38 % Zustimmung) waren schon vor dem Auftritt in Atlanta unterirdisch. Nach der Grusel-Debatte gehen die Zahlen weiter in den Keller. Vor allem in den sieben wahrscheinlich entscheidenden Bundesstaaten hat er noch mehr an Rückhalt verloren.
New Hampshire, New Mexiko und Virginia, bislang verlässlich „blau“ (demokratisch), sind für Trump in Reichweite gelangt. Fast die Hälfte der demokratischen Wähler will Bidens Abgang. Die Zahl derer, die ihn für fit genug halten, ist von 35 auf 25 Prozent gefallen. Bleibt er stur, könnte viele dieser Wähler am 5. November zu Hause bleiben.
Spätestens, wenn reihenweise Großspender abwinken und Abgeordnete und Senatoren auf die Barrikaden gehen, weil durch Biden Mehrheiten im Kongress in Gefahr geraten, sind die Jetzt-erst-recht-Durchhalteparolen und Treueschwüre (Obama, Clinton etc.) Makulatur. Darum: besser jetzt den Weg freimachen.
Trump ist eine zu große Gefahr für die Demokratie der USA
Donald Trump würde im Falle eines von Bidens unübersehbaren Defiziten begünstigten Wahlsieges die USA von links auf rechts drehen. Er hätte dabei weder Widerstand im Kongress noch beim Obersten Gericht.
Seine autokratischen Anwandlungen - politische Gegner inhaftieren, das Militär im Inland einsetzen, zehn Millionen Einwanderer deportieren, 50 000 Staatsbedienstete feuern - würden die USA in ihren Grundfesten erschüttern.
Die Demokraten haben nur einen Schuss frei, um das zu verhindern. Joe Biden könnte trotz aller Verdienste in der Vergangenheit nur noch eine „Platzpatrone“ sein. Verliert er die Wahl, ist sein Vermächtnis ruiniert.
Es war nicht Bidens erster Aussetzer
Das Argument von der einen vergeigten Nacht ist bereits in sich zusammengefallen. Joe Biden hat sich im TV-Duell nicht nur verhaspelt und den Faden verloren. Seit Monaten sind beim Präsidenten mit steigender Frequenz Aussetzer zu beobachten. Er verwechselt Namen, Orte und Jahreszahlen. Er redet zusammenhangsloses Zeug.
Entscheidend in Atlanta war, dass er sich von Trumps programmierter Lügen-Kanonade komplett aus dem Konzept bringen ließ. Seine eigene Politik blieb unkenntlich. 50 Millionen Amerikaner haben das miterlebt. Man kann das nicht ungesehen machen. Ein Präsident, der sich und seine „Ware“ nicht verkaufen kann, verzwergt und macht sich überflüssig.
Biden wird nicht jünger
Selbst wenn ihm ein Comeback gelingen sollte, wenn er also fit bliebe, öffentliche Auftritte bis dahin meistert, Amtsfähigkeit demonstriert und Donald Trump im November ein zweites Mal schlägt: Die Zeit läuft gnadenlos gegen Joe Biden. Er wäre 86 am Ende der Amtszeit. Seit seiner Wahl 2020 hat er noch mal stark nachgelassen.
Ausfall-Erscheinungen wie in Atlanta werden zu- und nicht abnehmen. Ein Präsident, der seine physische und mentale Stabilität nicht mehr unter Beweis stellen kann, wird zur Belastung für Amt, Land und Partei. Ein Sieg Bidens vertagt das Problem nur. Er ist zu alt für den anspruchsvollsten Job der Welt.
Bidens Vermächtnis bliebe bei einem Rückzug intakt
Niemand wird Joe Biden von der Bühne zwingen können. Er müsste den Schritt freiwillig tun. Den Weg freizumachen, wenn seine potenzielle Nachfolge in Würde und ohne Zerreißprobe für die Demokraten organisiert werden kann und veritable Chancen auf einen Sieg hat, wäre der Beweis von staatspolitischer Verantwortung.
Joe Biden könnte mit einwandfreiem Gewissen gehen: Er hat 2020 Donald Trump verhindert. Er hat das Land aus der Corona-Pandemie geführt, wirtschaftlich im Weltmaßstab enorm gestärkt, strukturell (Klimaschutz) zukunftsweisend aufgestellt und außenpolitisch wieder als Ordnungsfaktor etabliert.
Biden sagte 2020, er sei ein „Übergangskandidat“. Jetzt wäre der optimale Zeitpunkt, um den Staffelstab weiterzugeben.
Was für ein Weitermachen spricht
Biden ist eine enorme politische Größe in den USA
Joe Biden besitzt, was Donald Trump niemals gezeigt hat: Weisheit, 50 Jahre Erfahrung, Empathie für das Volk und unerreichte außenpolitische Sporen. Ein Mount Everest in Zeiten internationaler Krisen von der Ukraine bis Israel. Keiner der potenziellen Jungstars der Demokraten kann hier mithalten. Solange sein Know-how solide nutzbar ist, bleibt es wertvoll.
Außerdem: Für die demokratische Präsidentschaftskandidatur werden 2.000 Delegierte benötigt. Biden hat in den Vorwahlen rund 3.900 auf seine Seite gezogen. Dahinter stehen zig Millionen Wählerinnen und Wähle zwischen Texas und Montana, die genau wussten, wem sie da ihre Stimme geben - einem alten Mann.
Biden aufs Altenteil abzuschieben, könnte nach hinten losgehen. Prof. Allan Lichtman aus Washington, der nahezu sämtliche US-Präsidenten der vergangenen 40 Jahre richtig vorausgesagt hat, warnt die Demokraten vor einem „tragischen Fehler“.
Bei den Wählern hat Bidens TV-Auftritt nicht für großen Schaden gesorgt
Die politisch-mediale Blase in Washington kam nach Atlanta wie ausgehungerte Aasgeier über Biden. Aber das ist nicht Amerika. Die allermeisten Wähler verfolgen den täglichen Krampf in der Hauptstadt nur oberflächlich. Für sie ist es keine Sensation, dass Joe Biden alt ist und oft neben sich steht; manchmal so extrem wie in Atlanta.
Die Reaktionen darauf sind bei der Basis bei Weitem nicht so hysterisch wie bei vielen Leitartiklern. Biden will mit einem breiten Öffentlichkeits-Feldzug (Interviews, Townhalls, Reden) ohne Teleprompter den Beweis antreten, dass Atlanta die Ausnahme war. Am Samstagmorgen gab er den Auftakt beim TV-Sender ABC.
Es gibt seit Jahren "zwei Bidens"
Das Gerede um den angeblichen Betrug am Wähler, dem vorenthalten worden sei, wie es tatsächlich um Biden steht, ist töricht.
Wer Joe Biden in den vergangenen Jahren aus der Nähe erleben konnte (der Autor dieser Zeilen etwa seit 2011), wusste, dass es zwei Bidens gab: Den lauten, wachen, messerscharf nachfragenden und sarkastischen Biden. Und den, der Aussetzer und geistige „Total-Platten“ hat.
Letztere haben zugenommen. Trotzdem steckt Biden immer noch tief in der politischen Materie.
Ein Kandidaten-Austausch könnte den Demokraten schaden
Dem Argument, allein ein frisches Gesicht bei den Demokraten könne im November verhindern, dass Donald Trump für Amerika das Höllentor der Autokratie öffnet, mangelt es an Beweiskraft. Niemandem - von Gavin Newsom über Gretchen Whitmer bis zu Josh Shapiro und Pete Buttigieg - wird in Umfragen attestiert, besser abzuschneiden.
Alle Talente auf der demokratischen Ersatzbank haben nur Bruchteile der Erfahrung Bidens, geschweige denn den nationalen und internationalen Bekanntheitsgrad. Dazu kommt das Risiko der parteiinternen Revolte.
Der Parteitag in Chicago im August, so er sich nicht mit 90 Prozent hinter einem Nachfolger/einer Nachfolgerin versammelt, könnte als Ausdruck von Zerrissenheit ausgelegt werden und Wähler abschrecken.
Biden hat es verpasst, einen Nachfolger aufzubauen
Biden hat 2022 nach den Zwischenwahlen im Kongress den Zeitpunkt verstreichen lassen, den Generationswechsel einzuleiten und seine Nachfolge zu bestellen. Ein Fehler, gewiss. Aber einer, den damals alle Demokraten von Rang geduldet haben.
Niemand ist aufgestanden und hat jene Verjüngung eingeklagt, die Biden selbst mit der Bemerkung intoniert hatte, er sei ein „Übergangskandidat“ geredet. Jetzt kommt das Grummeln zu spät. Vier Monate vor der Wahl eine Alternative aufzubieten, die Strahlkraft besitzt, die Machtzentren der Partei unter einen Hut bringen kann, ist ein heikles Unterfangen.
Die Demokraten könnten aus dem Blick verlieren, warum es eigentlich geht: Donald Trump zu verhindern. Nur Biden hat das bisher geschafft.
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