Gespaltenes Land: So reagiert Frankreich auf das Wahlergebnis
Seit drei Wochen habe sie regelrecht Angst, sagt die junge Frau in der Pariser Vorstadt Alfortville. Mit seiner Ankündigung, die Nationalversammlung aufzulösen und kurzfristig Neuwahlen anzusetzen, habe Präsident Emmanuel Macron das Land einem enormen Risiko ausgesetzt: „Ich bin keine Ausländerin und nicht Zielscheibe der Rechtsextremen, aber es besorgt mich sehr, dass die vielleicht bald an der Regierung sind.“
Tausende gingen noch am Sonntagabend, direkt nach der ersten Runde der Parlamentswahlen in mehreren französischen Städten auf die Straße, um gegen dieses Risiko zu demonstrieren. Zugleich hatte ein Drittel der Wahlberechtigten ihr Kreuzchen beim Rassemblement National (RN) oder den Verbündeten um den bisherigen Chef der konservativen Republikaner, Éric Ciotti, gemacht. Frankreich offenbart sich in diesen Tagen als gespaltenes Land.
Während der RN das Ergebnis der letzten Parlamentswahlen 2022 fast verdoppeln konnte und das Linksbündnis Neue Volksfront leicht auf 28 Prozent zulegte, stürzte die bisherige Regierungsmehrheit auf knapp 20 Prozent ab.
"Die erste große Niederlage"
„Das ist die erste große Niederlage für das Macron-Lager“, kommentierte der Politikwissenschaftler Bruno Cautrès. Mit seiner Idee vorgezogener Wahlen habe der Präsident „das Land stark verunsichert“.
In insgesamt 74 der 577 Bezirke siegten Bewerber bereits in der ersten Runde, unter ihnen 38 Politiker des RN und dessen Frontfrau Marine Le Pen. In den anderen Wahlkreisen qualifizierten sich für die zweite Runde am Sonntag mindestens zwei, oftmals mehr Kandidaten.
Wie viel Macht Le Pens Partei schlussendlich erhält, hängt maßgeblich davon ab, wie viele Kandidaten der Linksallianz und des Regierungslagers sich zurückziehen, um die Chancen der rechtsextremen Kandidaten zu schmälern. RN-Parteichef Jordan Bardella hat angekündigt, nur Premierminister werden zu wollen, falls er über eine absolute Mehrheit verfügt. Prognosen sagen dem RN 230 bis 280 Sitze voraus; nötig wären 289.
Bis am Dienstagabend um 18 Uhr alle Kandidaten feststehen müssen, wird noch gefeilscht und debattiert. Die konservativen Republikaner, die zehn Prozent erzielten, lehnten eine „republikanische Front“ gegen die Rechtsextremen ab – anders als die Linken, die sich dafür aussprachen.
"Keine Stimme, kein Sitz mehr für den RN"
Sogar Jean-Luc Mélenchon, Führungsfigur der Linkspartei LFI (La France Insoumise, „Das unbeugsame Frankreich“), kündigte an, dass sich die linken Kandidaten überall dort, wo sie nur drittplatziert sind, zurückziehen. „Keine Stimme, kein Sitz mehr für den RN“, tönte er.
Doch für viele ist genau Mélenchons streitbare Persönlichkeit ein Teil des Problems. Dem 72-jährigen Linkspopulisten wird Antisemitismus vorgeworfen, da sich seine Partei seit dem Anschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober weigerte, diese klar als Terror-Organisation einzustufen. Er wies die Anschuldigungen stets von sich.
Die 577 Sitze in der Nationalversammlung (jeder Wahlkreis hat einen) werden nach dem Mehrheitswahlrecht vergeben. Um ins Parlament einziehen zu können, braucht ein Kandidat mehr als 50 Prozent der Stimmen seines Wahlkreises, die zugleich einem Viertel der eingeschriebenen Wähler entsprechen. Im ersten Durchgang am Sonntag gelang das in nur 74 Wahlkreisen. In 38 davon gewannen Kandidaten des Rechtsaußen-Lagers, in 31 jene des Links-Bündnisses. In den zweiten Wahldurchgang am 7. Juli kommen all jene Kandidaten, die mehr als 12,5 Prozent im ersten Durchgang geholt haben.
Macrons Mitte-Lager und Teile des Linksbündnisses haben angekündigt, nächsten Sonntag in jenen Wahlkreisen, in denen sie den dritten Platz holten, auf ihre Kandidatur zugunsten des Zweitplatzierten verzichten zu wollen, um deren Chancen gegen rechte Kandidaten zu erhöhen. 66,7 Prozent betrug die Wahlbeteiligung im ersten Durchgang – so hoch wie seit 1989 nicht mehr.
Doch am Wahlabend hielt er seine Rede neben Rima Hassan, die ein Palästinensertuch um die Schultern trug. Die neue LFI-Europaabgeordnete ist aufgrund ihres militanten Einsatzes für die Palästinenser und ihrer anti-israelischen Positionen umstritten. Dass ausgerechnet sie, die gar nicht zur Wahl stand, auf der Bühne stand, nahmen viele als weitere Provokation wahr.
Mehrere Persönlichkeiten aus Macrons Umfeld, wie Ex-Premierminister Édouard Philippe und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, sprachen sich dafür aus, dass sich ihre Kandidaten in den Wahlkreisen, wo sie zurückliegen, zugunsten von Sozialisten, Grünen und Kommunisten zurückziehen – aber nicht der Linkspartei LFI. „Für mich ist LFI eine Gefahr für die Nation“, sagte Le Maire. Die Partei sei antisemitisch und begünstige Parallelgesellschaften.
"Niedergeschmettert und extrem wütend"
Zu Le Maires Haltung befragt, sagte die französische Grünen-Chefin Marine Tondelier, sie sei „niedergeschmettert und extrem wütend“ auf den Minister, der „wie ein Feigling und Privilegierter“ handle. Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022 hätten etliche Linkswähler für Macron gestimmt, um Marine Le Pen zu verhindern. „Zum Glück sind unsere Wähler weniger feige.“
Premierminister Gabriel Attal hatte am Wahlabend dazu aufgerufen, „alles zu tun, um das Schlimmste zu verhindern“; doch auch er sprach nur von einem Rückzug des eigenen Kandidaten zugunsten all jener, „die die Republik verteidigen“. Ähnlich hatte es zuvor Macron in einer schriftlichen Erklärung formuliert.
Unklar blieb, ob LFI demnach dazugehört. Nicht alle Kandidaten ihres Lagers zogen sich zurück. Die Anspannung vor dem zweiten Wahlgang ist groß.
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