Experte Wuttke über EU-China-Gipfel: "Xi will Europa dominieren"

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Der EU-China-Gipfel in dieser Woche droht, erneut ergebnislos zu bleiben. China-Kenner Jörg Wuttke erklärt, warum Gespräche trotzdem wichtig sind - und wie Europa seine Abhängigkeiten verringern könnte.

Jörg Wuttke kennt die chinesische Wirtschaft wie kaum ein anderer Europäer: Als China-Chef des deutschen Chemieriesen BASF verbrachte er drei Jahrzehnte im Reich der Mitte, war langjähriger Chef der EU-Handelskammer in Peking und hat den Wandel der europäisch-chinesischen Beziehungen hautnah miterlebt. Bis heute berät er unter anderem die EU-Kommission in ihrer China-Strategie.

Im KURIER-Interview blickt Wuttke auf den am Donnerstag bevorstehenden EU-China-Gipfel in Peking - und liefert Lösungsansätze, wie sich Europa verändern muss, um nicht im Großmachtkonflikt zwischen China und den USA aufgerieben zu werden.

President of the European Union Chamber of Commerce in China Joerg Wuttke speaks at a roundtable event in Shanghai

Jörg Wuttke war unter anderem drei Amtszeiten lang Präsident der EU-Handelskammer in Peking.

KURIER: Der EU-China-Gipfel beginnt in diesem Jahr unter denkbar schlechten Vorzeichen. Eigentlich hätte er in Brüssel stattfinden sollen, doch Xi Jinping schlug die Einladung aus. Ist es aus Ihrer Sicht richtig, dass die EU-Spitze nun nach Peking reist, um überhaupt die Möglichkeit zu haben, mit Chinas Machthaber zu sprechen?

Jörg Wuttke: Dieser Gipfel markiert das 50-jährige Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen Europa und China. Trotzdem schafft es der chinesische Präsident offenbar nur nach Moskau. Das sagt im Grunde schon alles. Doch wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten.

Man muss davon ausgehen, dass das politische System in China - ähnlich wie in Russland oder in der Trump-Administration - wie eine Echokammer wirkt; dass Xi Jinping also womöglich von seinen eigenen Leuten kaum Manöverkritik zu hören bekommt. Deshalb ist es wichtig, dass die EU-Spitze ihm ins Gesicht sagt, wo uns der Schuh drückt.

Seit 2020 gab es bei keinem EU-China-Gipfel auch nur eine gemeinsame Erklärung zum Abschluss. Wird dieser Gipfel so nicht irgendwann obsolet?

Die EU ist darauf bedacht, mit einer derart großen Volkswirtschaft und einem Mitglied des UNO-Sicherheitsrats in Kontakt zu bleiben. Aber es gibt zur Zeit viele Probleme: den schwierigen Marktzugang für europäische Firmen in China, Pekings Unterstützung für Russlands Krieg in der Ukraine und neuerdings die Politisierung des Handels mit Seltenen Erden.

Das sind alles Themen, bei denen China sich nicht bewegen möchte. Umgekehrt hat Europa keinen Hebel, um Chinas Führung dazu zu bringen, sich zu bewegen. Wir laufen also Gefahr, dass es auch bei diesem Gipfel wieder zwei Monologe werden und kein Dialog.

Europas und Chinas Beziehung zu den USA leidet unter Donald Trump. Wäre das nicht eigentlich eine Chance, sich China wieder anzunähern?

Definitiv. Unser Verhältnis zu den USA ist allerdings auf einem ganz anderen Niveau: Der Investitionsbestand Europäischer Firmen in den USA sind rund 2,4 Billionen Dollar, in China haben EU-Firmen in den letzten 20 Jahren nur 185 Milliarden investiert, also nicht einmal ein Zehntel. Auch der Trend ist gegensätzlich: Europäische Exporte nach China nehmen ab, jene in die USA nehmen zu.

China wird also niemals ein US-Ersatz für uns sein. Aber das Land ist ein wichtiger Partner, das hat die EU 2019 in ihrer China-Strategie ja auch so treffend ausgedrückt …

… China sei gleichzeitig “Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale” …

Ja, in dieser Reihenfolge. Genau die könnte sich jetzt aber ändern. Wir erleben China zunehmend als Wettbewerber, vor allem auf Drittmärkten. Und als systemischen Rivalen, weil unsere politischen Systeme überhaupt nicht zusammenpassen. Die Bezeichnung “Partner” könnte künftig an letzter Stelle kommen. Das wäre schade, aber es geht in diese Richtung.

Unter Xi Jinping scheint China die EU gezielt zu umgehen, versucht stattdessen seine Macht auf einzelne Mitgliedsstaaten auszuüben. Wie kann man dagegen vorgehen?

Xi Jinping und Donald Trump haben dieselbe Meinung über die Europäische Union: Sie mögen sie überhaupt nicht, sie wollen Europa dominieren. Die Marktkraft der EU als Gesamtkonstrukt ist ihnen unangenehm, also versuchen die beiden alles, um die Struktur der EU gezielt zu schwächen. Unsere Schlussfolgerung sollte daher sein, dass wir diese Struktur weiter stärken müssen.

Wie lässt sich verhindern, dass einzelne EU-Staaten, für die China ein attraktiver Geschäftspartner ist, regelmäßig ausscheren, wenn es darum geht, klare Kante gegenüber Peking zu zeigen?

Diese Regierungschefs wie Viktor Orbán in Ungarn oder Robert Fico in der Slowakei wollen größer erscheinen, als sie sind. Das muss man als EU aussitzen können. Irgendwann werden auch sie nicht mehr an der Macht sein.

Aber natürlich ist es ein strukturelles Problem: Je größer die EU wird, desto größer wird die Angriffsfläche, die wir mit unserem Einstimmigkeitsprinzip bieten. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, ob sich dieser Entscheidungsmechanismus noch politisch durchhalten lässt, wenn wir neue Mitgliedsstaaten aufnehmen - oder ob wir uns nicht zu leicht erpressbar machen für Staaten wie China, aber auch die USA.

Chinas Außenminister Wang Yi soll in Vorbereitung auf den Gipfel gegenüber der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas erstmals ausgesprochen haben, dass China den Krieg in der Ukraine möglichst lange am Laufen halten möchte, weil die US-Militärindustrie dort gebunden ist. Was bedeutet das für die Beziehungen zwischen China und Europa?

Damit ist ein Schuss Realismus in unsere Beziehung gekommen. Er hat die Karten offengelegt, von denen wir alle wussten, dass China sie in der Hand hält. Das zeigt uns, dass China und die USA ihre Außenpolitik völlig auf ihren Großmachtkonflikt ausgerichtet haben. Und dass sie alles versuchen, um ihre Nachbarstaaten und Handelspartner dazu zu bringen, sich für eine Seite zu entscheiden.

Dem kann man nur entgegenwirken, indem wir selbst klare Kante zeigen und unsere eigenen Interessen vertreten. Dafür brauchen wir Einigkeit innerhalb Europas. Es hilft nichts, wenn wir nach außen hart auftreten und dann kommen Parteien wie die AfD oder der RN an die Macht und stellen den Euro oder sogar die EU als Ganzes infrage.

In den USA gibt es momentan viele Stimmen, die sich für eine totale Entkopplung von der chinesischen Wirtschaft in kritischen Branchen aussprechen. Sollte das auch Europas Ziel sein?

Für die USA ging es im Umgang mit China vor allem um Sicherheit, für uns vor allem um Handel. Das hat sich jetzt zum ersten Mal gedreht, seit Peking in diesem Jahr seine Exporte von Seltenen Erden eingeschränkt hat, auf die wir angewiesen sind. Um von solchen Maßnahmen nicht mehr so leicht getroffen werden zu können, wollen die Amerikaner sich entkoppeln. Aber sie sind noch lange nicht so weit, dass das möglich ist.

Ich halte für Europa den Begriff des “de-riskings” für richtig: Also die Entkopplung nur in jenen Wirtschaftsbereichen, in denen wir wirklich Gefahr laufen, unsere Sicherheit infrage zu stellen. Aber: So schön das klingt, sich etwa im Bereich der Seltenen Erden von China zu entkoppeln - das schaffen wir vielleicht, wenn alles gut geht, in zehn Jahren.

Wie könnte Europa denn seine Abhängigkeiten von China verringern?

Man muss Geld in die Hand nehmen. Bleiben wir beim Beispiel der Seltenen Erden: Die sind eigentlich gar nicht so selten, es gibt sie auch außerhalb Chinas, aber die Chinesen haben ein Monopol in der Verarbeitung. Wir müssten also zuerst einmal die nötige Technologie entwickeln - das geht nur mithilfe von Forschungsgeldern - und dann Verträge mit anderen Ländern schließen, die solche Rohstoffvorkommen haben.

Auch bei Pharma-Vorprodukten, Magnesium oder Vitamin B könnten wir weniger abhängig sein. In Österreich hat man vor fünf Jahren etwa den Pharmakonzern Novartis mit 30 Millionen Euro unterstützt, damit er weiter hier produziert. Genau so muss das laufen.

Die Autoindustrie bleibt das Streitthema schlechthin. China will unbedingt, dass die EU ihre Strafzölle auf chinesische E-Autos aufhebt und bietet stattdessen Mindestpreisvorgaben an. Was halten Sie davon?

Meiner Meinung nach muss sich die EU mit Blick auf die E-Auto-Zölle nicht bewegen: Donald Trump hat die Zollproblematik der Chinesen im Grunde gelöst, indem er seit Beginn seiner Amtszeit den US-Dollar um 15 Prozent abgewertet hat. Die Strafzölle gegen Tesla waren neun Prozent, jene gegen BYD 17 Prozent - die sind damit also fast aufgehoben worden.

Die allermeisten chinesischen E-Autos haben heute in Europa dieselbe Wettbewerbsfähigkeit wie im vergangenen August, bevor die EU-Strafzölle eingeführt wurden. Das muss man den Chinesen mal vorrechnen.

Für Chinas Führung hätte es aber großen symbolischen Wert, wenn die EU die Zölle wieder aufheben würde ...

Aber diese Zölle sind ja nicht einfach erfunden worden! Es gab eine monatelange Untersuchung der EU-Kommission, bei der alle noch so kleinen chinesischen Subventionen entlang der Produktionskette berücksichtigt wurden - vom Minenbetreiber über das Transportunternehmen bis zum Stromanbieter. Daraus hat man dann Zollhöhen für jede E-Auto-Firma definiert.

Somit haben wir am europäischen Markt wieder gleiche Wettbewerbsbedingungen. Genau das ist es doch, was die Chinesen immer einfordern. Ich halte die Politisierung dieser Maßnahme von chinesischer Seite für völlig überzogen.

Ein weiterer Streitpunkt ist, dass China durch den Zollstreit mit den USA zuletzt viel mehr nach Europa exportiert, also Warenströme umleitet. Sehen Sie das als Problem?

Gewissermaßen profitieren wir davon, weil chinesische Konzerne indirekt ihre Deflation exportieren: Billige chinesische Waren kommen nach Europa, was unserer Inflation entgegenwirkt. Aber man muss darauf achten, dass sie uns nicht mit bei jenen Produkten massiv unterbieten, für die wir in Europa eigene industrielle Möglichkeiten haben.

In Drittstaaten schaden uns die umgelenkten chinesischen Exporte dagegen enorm: Dort unterbieten uns die Chinesen bei Industriemaschinen, Zügen, Autos und Chemieprodukten massiv, teilweise um mehr als 20 Prozent des Preises. Das ist fast nicht aufzuholen.

Was müsste sich in Europa verändern, damit wir am Weltmarkt mit China mithalten können?

Wir müssen unsere eigene Volkswirtschaft verändern, um wieder konkurrenzfähig zu sein. Der ehemalige EZB-Direktor und italienische Ministerpräsident Mario Draghi hat das in seinem Bericht an die EU-Kommission im Vorjahr ausgearbeitet: Wir haben an Konkurrenzfähigkeit verloren, weil wir zu hohe Energiepreise haben, zu regulativ aufgestellt sind und unsere Schulen und Universitäten vernachlässigt haben. 

China beherbergt aktuell die Hälfte aller Top-Universitäten in den Bereichen Mechanik, Ingenieurswesen und Chemie. Das ist natürlich ein enormer Wettbewerbsvorteil. 

Wir sollten also weniger darauf achten, wo wir den Chinesen ein Bein stellen können, sondern stärker auf uns selbst schauen - und darauf, wie wir unsere eigenen Nachteile wieder in den Griff bekommen. Wir können China von außen nicht verändern. Die einzigen, die wir ändern können, sind wir selbst.

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