Viele Reformen
Der Emissionshandel etwa wurde reformiert – was so viel bedeutet wie: Wer Treibhausgase ausstößt, muss künftig auch dafür zahlen, angefangen vom Straßenverkehr bis zu Gebäuden, von der Industrie bis zur Landwirtschaft.
Gesetzliche Rahmenbedingungen wurden gesetzt, um die gesamte Energiewirtschaft umzustellen. Fossile Energieträger sollen durch erneuerbare ersetzt werden, und russisches Gas in der EU wird ab 2027 überhaupt Geschichte sein.
Für jeden einzelnen Bürger in Europa ist seither spürbar: Ein gewaltiges Beben wurde da in Brüssel losgetreten, Hunderte Gesetze, die Kernelemente des Green Deals sind, wurden verabschiedet. In den zwölf Monaten vor der EU-Wahl wird es nun aber keine neuen Initiativen mehr geben. „Im letzten Teil dieser Legislatur-Periode sind wir dabei, das Vorliegende umzusetzen“, schildert EU-ÖVP-Abgeordneter Alexander Bernhuber.
"Viel Verbotspolitik"
Doch er schränkt ein: „Ich bin nicht sicher, ob jede Entscheidung die richtige war, es gab viel Verbotspolitik, siehe das Verbot des Verbrennermotors.“ Zur Erinnerung: Ab 2035 dürfen in der EU nur Neuwagen zugelassen werden, die elektrisch oder mit E-Fuels angetrieben werden.
Und sonst? Welche Bilanz gilt es für Ursula von der Leyen und ihre Kommission zu ziehen? „Abgesehen vom Green Deal hat die Kommission vieles vorangebracht, bei der Digitalisierung, der Strategiefähigkeit“, sagt Henning Vöpel, Vorstand des Centrums für Europäische Politik (cep).
„Man wollte das Richtige“, schildert Vöpel dem KURIER, „aber in der Masse war es zu viel, zu kleinteilig, zu viele Berichtspflichten für Unternehmen, sodass sich vieles zu einer großen Bürokratielast entwickelt hat.“ Statt einer Transformation, also einer Umwandlung in Richtung De-Carbonisierung entstehe so die Gefahr einer „De-Formation“, befürchtet der Wirtschaftsexperte.
Gut bewältigte Pandemie
Positiver fällt die Bilanz bei der Bewältigung der Corona-Krise aus. „Das hat die EU relativ gut gemeistert, mit der gemeinsamen Impfstoffbeschaffung. Und sie hat den Wiederaufbaufonds auf den Tisch gebracht“, sagt Brüssel-Kenner Janis Emmanouilidis. Für den Fonds im Ausmaß von rund 700 Milliarden Euro hat die EU erstmals gemeinsam Schulden aufgenommen – ein bis dahin unerhörter Tabubruch.
Auch auf den zweiten großen Schock der vergangenen Jahre – Russlands Krieg gegen die Ukraine – hat die EU ungewöhnlich schnell und gemeinsam reagiert. Zehn Sanktionspakete gegen Moskau wurden verabschiedet, Waffen geschickt und die Ukraine blitzartig zum EU-Beitrittskandidaten gekürt.
Doch was die strategischen Herausforderungen der näheren Zukunft angeht, da sind sich die Experten einig, brauche es, sagt Emmanouilidis, „mehr Ambition“. „Wie wird es weitergehen mit Moskau, wie mit Peking?“ Das seien entscheidende Fragen, bei denen die 27 EU-Staaten oft auseinanderdriften.
Eine Strategie gegenüber Russland gibt es noch ebenso wenig wie gegenüber China. Doch die „Schocks und asymmetrischen Krisen werden in Zukunft mehr werden“, befürchtet Experte Vöpel, und so werde es unerlässlich sein, „die europäische Verteidigungsfähigkeit und unsere Technologieführerschaft zu forcieren“.
Lösung der Migrationskrise steht (noch) aus
Auch bei der Lösung der Migrationskrise hat die EU erst Trippelschritte bewältigt. Einen Massenzustrom wie 2015/16 gab es nicht mehr, doch eine gemeinsame Antwort der EU in der Asylpolitik steht noch immer nicht – auch wenn auf Innenministerebene aktuell daran gearbeitet wird, noch vor Ende Juni eine Lösung zu finden.
➤ Schnellere Asylverfahren an EU-Außengrenzen wohl fix
Dabei drängt die Zeit, denn wenn der Wahlkampf nächsten Frühling seinen Höhepunkt erreicht, soll nach Wunsch der meisten EU-Abgeordneten die Migration kein Thema mehr sein. Profitieren würden sonst nur die rechten, europaskeptischen Parteien.
Tatsächlich könnte das nächste EU-Parlament eines sein, bei dem die extremen politischen Ränder gestärkt werden. Emmanouilidis: „Bei der Wahl 2019, nach Trump und Brexit, gab es überall Debatten, warum die EU gebraucht wird. Aktuell habe ich den Eindruck, dass auf nationaler Ebene nicht viel über die EU-Dimension diskutiert wird. Die Gefahr ist, dass vielen Menschen nicht bewusst ist, wie wichtig die europäische Ebene ist, und sie nicht zur Wahl gehen.“
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