Sicherheit in Europa: "Wir wollen ja keinen Feldzug machen"
Hans-Lothar Domröse, Bundeswehr-General außer Dienst, über die Herausforderungen der europäischen Sicherheitspolitik und warum diese auch bei einem Sieg von Kamala Harris gefordert sein wird.
Der KURIER traf General a. D. Hans-Lothar Domröse im Rahmen der CIRA-Jahreskonferenz, auf der der ehemalige hochrangige NATO-General einen Vortrag zur europäischen Sicherheitspolitik hielt.
KURIER:Herr General, die EU und Großbritannien haben zusammen 500 Millionen Einwohner und hoffen darauf, dass die USA mit ihren 300 Millionen Europa im Ernstfall gegen ein 150 Millionen Land wie Russland verteidigen. Wo liegt das Problem?
Hans-Lothar Domröse: Man kann die Stärke eines Landes nicht nur anhand seiner Einwohnerzahl messen. Entscheidend sind auch die Wirtschaftskraft und das Humankapital, wie etwa wissenschaftliche Errungenschaften und Intelligenz. Trotzdem ist klar, dass ein 150-Millionen-Volk wie Russland – eine Weltmacht, eine Nuklearmacht – mit seinen riesigen Ressourcen, darunter Erdöl und Gas, eine enorme Schlagkraft besitzt. Die Ukraine steht dem militärisch unterlegen gegenüber, doch es ist die Ukraine, die angegriffen wurde, nicht Österreich, nicht Deutschland.
Natürlich. Dennoch gibt es Befürchtungen, dass Russland auch die NATO unter Druck setzen könnte, etwa im Baltikum. Die NATO scheint jedoch ohne die USA nicht funktionsfähig. Warum konnte Europa in den vergangenen Jahren keine glaubwürdige Verteidigungsstrategie entwickeln?
Der Grund dafür liegt im mangelnden Handeln. 2014, nach der Annexion der Krim, hatten westliche Staaten beschlossen, ihre Verteidigungsbudgets zu erhöhen. Doch es geschah nichts. Zehn wertvolle Jahre gingen verloren, und heute stehen wir vor riesigen Lücken. Wir haben uns zu sehr auf die USA verlassen. Die Amerikaner werden aber nicht ewig die "Kartoffeln aus dem Feuer holen", wenn wir nicht selbst bereit sind, uns zu verteidigen. Und unabhängig davon, ob Donald Trump oder Kamala Harris die USA regieren – deren Fokus liegt auf China.
Experten sagen, die USA könnten im Fall eines Angriffs auf europäische NATO-Staaten nur etwa 120.000 Soldaten schicken. Wäre das ausreichend?
Diese Mannzahlen sind immer mit den USA als Welt- und Nuklearmacht verbunden. Das habe ich in all meinen Einsätzen erlebt. Selbst wenn nur fünf US-Amerikaner im Einsatz wären, würde man immer an die USA denken, die dahinterstehen. Und diese werden aktiv, wenn ein US-Soldat fällt. So ist die Annahme, so war sie zumindest die letzten 70 Jahre. Darum müssen wir in Europa stärker werden.
Sie sprechen die unzureichende militärische Selbstständigkeit Europas an. Eine EU-Armee ist illusorisch. Wie kann dennoch die Verteidigungsfähigkeit erhöht werden?
Die Bürger der EU teilen ähnliche Werte wie Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Wir haben die gleiche Basis und insgesamt eine Million Soldaten. Aber unsere militärischen Systeme passen nicht zusammen. Jedes Land hat eigene Panzer und Flugzeuge. Wir müssten alle verzichten, damit wir ein großes Gemeinsames schaffen.
Auf alle Konfliktherde rund um Europa hat die EU fast keinen Einfluss: Sahelzone, Libyen, Nahost, Kaukasus, Ukraine. Warum fehlen uns außenpolitisch Gewicht und Handlungsfähigkeit? Wissen wir überhaupt, wo wir hinwollen?
Europa ist von nationalen Egoismen geprägt. Das sage ich ohne Vorwurf. Jeder Staat hat seine eigenen Interessen, und obwohl wir alle ähnliche Ziele haben, sind die Details unterschiedlich. Damit müssen wir wahrscheinlich leben. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir ein globaler Akteur sein wollen. Ich glaube, wir wollen das philosophisch, aber nicht real. Und dann muss man sagen, okay, dann gehen wir in die zweite Reihe. Das müssen wir nur anerkennen oder mehr leisten und zum Frieden konkret beitragen. Warnende Worte reichen nicht.
Der aktuell kleinste gemeinsame Nenner ist die "Rapid Deployment Capacity" – ein brigadestarker Verband, der voraussichtlich nie eingesetzt wird ...
Das bringt nichts. 5.000 Soldaten reichen vielleicht, um Menschen in Notlagen zu evakuieren. Die NATO ist für den Ernstfall zuständig, die EU führt nur Friedensmissionen durch. Wenn es um Krieg geht, zählt die NATO – und damit die USA und Kanada.
Hans-Lothar Domröse (71) begann seinen Dienst in der deutschen Bundeswehr 1973 als Panzergrenadier, studierte Wirtschaftswissenschaften und absolvierte 1986 den Generalstabslehrgang. Unter anderem war Domröse Stabschef der NATO-Missionen im Kosovo und Afghanistan und leitete das Wahlunterstützungsteam bei den ersten freien Wahlen in Bosnien-Herzegowina im Jahr 1996. Er übernahm 2009 den Posten als Kommandierender General des Eurokorps in Straßburg. Bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 2016 war Domröse Oberbefehlshaber des NATO Allied Joint Force Command Brunssum – eines der beiden europäischen NATO-Kommandos, die mit der Führung von NATO-Operationen beauftragt sind.
Welche Erwartungen haben Sie an den künftigen EU-Verteidigungskommissar? Gibt es Potenzial, Projekte wie PESCO (Ständige Strukturierte Zusammenarbeit), den Verteidigungsfonds, bzw. die europäische Rüstungsindustrie zu stärken?
PESCO ist eine gute Idee, aber die Umsetzung war bisher enttäuschend, der Verteidigungsfonds ebenfalls. Ich erhoffe mir vom neuen Verteidigungskommissar, dass er es schafft, Interessen zu bündeln. Was wir brauchen, sind funktionierende Kooperationen, etwa zwischen den baltischen Staaten oder Kerneuropa, also Deutschland, Frankreich und Italien. Es muss eine Spezialisierung geben, bei der sich bestimmte Länder auf Luftverteidigung konzentrieren und andere auf Panzer. Nur so kann Europa seine Verteidigungsfähigkeit stärken.
Deutschland setzt mehr auf defensive Kapazitäten, während Frankreich auf offensive Kapazitäten abzielt. Sehen Sie darin einen sinnvollen Ansatz?
Beide Ansätze haben ihre Berechtigung. Deutschland will möglichst lange souverän bleiben, Frankreich setzt auf seine Nuklearmacht, ist aber konventionell schwächer. Es gibt keine perfekte Aufteilung, aber wir müssen in der Lage sein, uns zu verteidigen. Wir wollen ja keinen Feldzug machen, das haben wir hinter uns. Und wenn ich schon in Wien bin – wir hatten den Österreicher, der uns kein Glück gebracht hat – also wir wollen nicht angreifen, sondern uns verteidigen. Dazu gehören moderne Luftabwehrsysteme und gut ausgebildete Soldaten.
Zur Luftabwehr: Bis 2029 wird Deutschland 18 Skyranger-Systeme für die Flugabwehr auf kürzeste Distanz beschaffen, Österreich 36 bis 2030. Was läuft falsch in der deutschen Beschaffungspolitik?
Die Zahl der bestellten Skyranger-Systeme ist viel zu gering. 18 Systeme für Deutschland sind nur ein Anfang. Die Bedrohung durch Drohnen und Raketen wird zunehmen, und wir werden in Zukunft noch viel mehr investieren müssen, um uns effektiv verteidigen zu können. Wir haben die Luftabwehr völlig vernachlässigt – aber es werden natürlich weitere Systeme dazukommen.
Halten Sie die viel beschworene Zeitenwende in Deutschland für durchführbar?
Ich glaube, sie ist gut gestartet, jetzt ist sie versandet. Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr sind zwar bis 2027 verplant, aber nicht ausreichend. Es braucht mindestens 300 Milliarden Euro, um die Lücken zu schließen. Die nächste Regierung wird entscheiden müssen, ob sie diese Investitionen tätigt. Ich bin davon überzeugt, dass sie das tun muss, aber sie muss natürlich ebenso in Bildung, Rente und Infrastruktur investieren.
Was waren die schwerwiegendsten strukturellen Fehler in der Bundeswehr während Ihrer Dienstzeit?
Die zahlreichen Umstrukturierungen haben das Ministerium zu einem schwerfälligen Koloss gemacht. Es gibt zu viele hochrangige Kommandos und zu wenig Truppen. Außerdem fehlt uns die Wehrpflicht. Die Ukraine zeigt, dass wir im Ernstfall auf Reservisten angewiesen wären. Ohne eine Dienstpflicht können wir unsere Heimat nicht verteidigen.
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