Lange war die Welt nicht mehr so stark im Umbruch wie jetzt – und dieser Prozess wird sich fortsetzen. Walter Feichtinger, Chef des geopolitischen Thinktanks „Center für Strategische Analysen“ (CSA), führt im Gespräch mit dem KURIER aus, warum es dennoch sinnlos sei, den Kopf in den Sand zu stecken und welche Chancen die gegenwärtigen Kriege und Krisen bieten könnten.
➤ Krisen und Kriege überall: "Wir sind mitten in einem geopolitischen Umbruch"
Feichtinger geht von einer „asymmetrischen Multipolarität“ aus – zwei Supermächten (USA, China), einer halben Supermacht (Russland) sowie einflussreichen Regionalmächten wie der Türkei, Indien, Saudi-Arabien, Iran und Brasilien. Eine Supermacht ist für Feichtinger eine Macht, die politisch, militärisch und wirtschaftlich global wirken kann – aus diesem Grund komme der EU ein Sonderstatus zu (mehr dazu unten). Zusammenschlüsse wie BRICS plus sieht er als Versuch des Globalen Südens, den Einfluss des Westens zurückzudrängen – die derzeit entbrennenden und andauernden Konflikte seien ein Ergebnis dieses Ringens.
„Unter Druck entwickelt sich die EU weiter“
➤ Zur Lage der EU
Zusagen, die nicht eingehalten werden können – wie etwa eine Million Artilleriegranaten für die Ukraine –, immer stärkere politische Bedeutungslosigkeit in wichtigen Regionen wie etwa der Sahelzone und immer wieder Uneinigkeit zwischen den 27 Mitgliedsstaaten. Die Europäische Union hat eine Vielzahl von Krisen zu meistern – doch Feichtinger sieht Potenzial in ihrer Zukunft: „Wann immer sich der Druck auf die EU erhöht, entwickelt sie sich weiter“, sagt der ehemalige Brigadier.
„Vielen ist klar geworden, dass wir im selben Boot sitzen. Es gibt einen Konsens über alle Staaten hinweg, wo die EU stärker werden muss und ebenso einen über den Weg dorthin.“ Man müsse allerdings die jetzigen Strukturen und Mechanismen überdenken: „Es gab ja schon immer die Idee der verschiedenen Geschwindigkeiten, der freien Kooperationen und dergleichen. In diese Richtung kann ich mir vorstellen, dass die EU mehr Handlungsfähigkeit entwickelt“, sagt Feichtinger.
Normen und Werte
Die EU werde zwar sicher nicht so auftreten können wie die USA, Russland oder China. „Aber sie hat ihren eigenen Stellenwert – vor allem wirtschaftlich, aber auch bei der Vorgabe von Normen und Werten wie etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz.“ Als positives Beispiel nennt Feichtinger den EU-China-Gipfel Anfang Dezember, als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen klare Forderungen an Peking stellte – wie etwa den unzureichenden Marktzugang für europäische Firmen zu verbessern: „Irgendwann muss man Grenzen setzen, das ist passiert. Und wir wissen aus Erfahrung, dass China in der Regel auf solche Signale reagiert.“
„Haben Klarheit, Entscheidungen zu treffen“
➤ EU-Russland und der Angriffskrieg auf die Ukraine
Dass sich das Verhältnis EU-Russland in den kommenden Jahren verbessert, ist für Feichtinger nicht absehbar: „Für mich ist ziemlich klar, dass sich Putin von Europa und vom Westen abgewendet hat – in einer Ära Putin wird es auch keine Aussöhnung mehr geben. Das ist eine wichtige Erkenntnis, eine Klarheit, die wir brauchen, um Entscheidungen zu treffen.“ Diese gehen nach Feichtingers Dafürhalten in Richtung Unterstützung der Ukraine. „Ich bin der Meinung, dass die Ukraine Europa verteidigt.“
➤ Trotz Zusagen aus dem Westen: Die ukrainische Flugabwehr braucht mehr
Kiews Ziel für 2024 dürfte es nach Einschätzung Feichtingers sein, die Frontlinie zu halten, für eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive spreche aus jetziger Sicht wenig. Bei etwaigen Friedensverhandlungen müsse die Ukraine mit Sicherheitsgarantien ausgestattet werden – am besten über die NATO: „Natürlich könnten die USA dies auch bilateral vornehmen, doch aus geopolitischer Sicht ergibt es am meisten Sinn, wenn sich auch die EU daran beteiligt – und man auf das Vehikel NATO setzt.“
Hybrider Krieg
Putin gehe so weit, wie man ihn gehen lasse. Ohne Sicherheitsgarantien für Kiew sei nicht auszuschließen, dass er „neue Kräfte sammelt und wieder versucht, bis zum Fluss Dnipro oder weiter vorzustoßen“. Nicht zu vergessen sei der hybride Krieg, den Moskau von Desinformationskampagnen bis hin zu Cyberattacken gegen die EU führe. „Man ist sich in Europa nun dessen bewusst, hat die Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen.“
„Das könnte Weichen für Frieden stellen“
➤ Der Gazakrieg und die Zukunft des Nahen Ostens
„Die Stimmung gegen Israel wird jeden Tag kritischer. Die Armee steht unter enormem Zeitdruck, und die Regierung handelt unter größtem politischem Druck. Trotz der humanitären Katastrophe hat sie eigentlich keine strategische Alternative. Denn hört Israel heute auf zu kämpfen, ist die Hamas der klare Sieger“, analysiert Feichtinger den Gazakrieg.
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Der Krieg stört den Annäherungsprozess zwischen Israel und den arabischen Staaten empfindlich. Für eine politische Lösung seien aber auch die arabischen Staaten gefordert, mit Vorschlägen zu kommen. „Genau dieser Annäherungsprozess könnte aber das Gerüst für eine Lösung dieses Konflikts sein, wenn man grundsätzlich davon ausgeht, dass es eine friedliche Koexistenz mit Israel geben muss“, sagt er.
Deeskalation
Dabei müsse sich auch Israel bewegen und Deeskalationspolitik verfolgen. „Eine Weichenstellung für einen neuen Friedensprozess könnte sein, wenn Premier Netanjahu nicht mehr im Amt ist und die Palästinenser über eine neue Führung verfügen. Unwahrscheinlich ist das nicht. Aber die ganz wichtige Frage für mich ist: Hält dieser Versöhnungswille zwischen Israel und den arabischen Staaten?“
Bis es so weit kommen kann, würde jedoch „dieser völlig asymmetrische Krieg“ weitergeführt. „Eine Seite hält sich so weit wie möglich an das Kriegsvölkerrecht, die andere verletzt es ganz bewusst. Eine Seite versucht, humanitäres Leid zu vermeiden, die andere benutzt Zivilisten als Schutzschilde. Für Israel ist es vermutlich die letzte Chance, die Hamas militärisch zu besiegen.“ Israel müsse sich bemühen, das politische Feld nicht völlig zu verbrennen.
„Angriff Chinas ergäbe keinen Sinn“
➤ Taiwan und China
Immer wieder wird vor einem Angriff Chinas auf Taiwan gewarnt – für Feichtinger ergäbe das aber „strategisch überhaupt keinen Sinn“: „China braucht das nicht. Natürlich wird Peking seinen Anspruch auf Taiwan weiterhin stellen und versuchen, Taiwan näher an sich heranzuholen. Aber dazu benötigt es keinen militärischen Angriff.“
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Die Marinemanöver, mit denen die Volksrepublik Taiwans Abriegelung übt, oder auch die regelmäßigen Luftraumverletzungen sieht Feichtinger als Teil einer Zermürbungsstrategie: „Damit kann Peking darauf hoffen, dass sich die Stimmung in Taiwan irgendwann ändert.“ Ein weiterer wichtiger Faktor sei es, wie der nächste US-Präsident seine Beziehungen zu Taiwan und China ausrichtet.
Ansehen
Als dritten Punkt führt Feichtinger ins Feld, dass eine militärische Eskalation deswegen nicht in Chinas Interesse sei, „weil es seine wirtschaftliche Situation und sein internationales Ansehen massiv verschlechtern würde“. Vor allem in den Ländern des globalen Südens. „Und zu guter Letzt, weil es sein übergeordnetes strategisches Ziel („Chinesischer Traum“), nämlich Weltmacht Nummer eins im Jahr 2049 zu sein, riskieren würde. Warum soll China daher dieses Risiko eingehen, wenn es anders auch geht? Und Zeit ist ein Faktor, den China immer gezielt einzusetzen weiß“, sagt Feichtinger. Eine rote Linie sei eine Unabhängigkeitserklärung Taiwans, damit rechne aber niemand.
„Schaden vermeiden, auf die Zukunft vorbereiten“
➤ Klima und KI
Auch die Themen Künstliche Intelligenz und Klimawandel sieht Feichtinger als Herausforderung, die aber bewältigbar sind: „Wir müssen die Realitäten erkennen und sagen ’Wie können wir größeren Schaden vermeiden und wie können wir uns auf die Zukunft vorbereiten?’ Wehklagen und Jammern, das ist keine Lösung.“
Lösungen zu präsentieren, hält Feichtinger beim Thema Klimawandel für einen besseren Ansatz als den „Katastrophenzugang“, wie er ihn benennt. „Spätestens mit der COP28 haben alle verstanden, dass es sich um ein globales Problem handelt. Die UNO ist eine Organisation, die tatsächlich etwas in Bewegung bringen und kontrollieren kann. Sie trägt auch maßgeblich zur Bewusstseinsbildung bei, die am Anfang jeder größeren Veränderung steht. Außerdem vertraue ich auf die Kreativität der Wissenschaft, die Lösungen bringen kann, die heute noch undenkbar erscheinen“, sagt Feichtinger. Das gilt für ihn genauso für die Künstliche Intelligenz: „Es braucht Institutionen wie die UNO und die EU, die sich dieses Themas annehmen, um es in die richtige Richtung zu lenken.“
Regierungskrisen
Angesprochen auf die Regierungskrisen in Europa kommt Feichtinger zum Schluss: „Werden Regierungen abgewählt, weil sie Notwendigkeiten klar ansprechen und ein schlüssiges Programm präsentieren, ist das kein Malheur.“ In einer funktionierenden Demokratie könnten diese schließlich wieder gewählt werden. „Hält aber eine Regierung ihre Versprechen nicht, handelt nicht und tut alles, um an der Macht zu bleiben, so ist das viel schlimmer. Denn dann verkauft sie sich selbst und das Land.“
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