In der EU kocht eine Debatte um die Aufnahme neuer Mitglieder hoch, allen voran die Ukraine. Auch Österreichs meldet sich deutlich zu Wort. Wie aber könnte das gehen und was sind die Hürden?
Von einem „neuen Denken“ bei der Aufnahme neuer EU-Mitglieder spricht die deutsche EU-Staatssekretärin Anna Lührmann, von einer „schrittweisen Erweiterung“, bei der die zukünftigen Mitglieder bei bestimmten Themen schon mit am Tisch der EU sitzen dürfen, Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg.
Und Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates, denkt sogar laut über ein Beitrittsjahr 2030 für eine ganze Gruppe neuer Staaten nach, insbesondere der Ukraine. Doch wie lässt sich der seit Jahren stockende Prozess der EU-Erweiterung beschleunigen? Was sind die wichtigsten Gründe für eine zügige Erweiterung – und was die größten Hürden? Der KURIER sprach mit dem französischen EU-Experten Victor Warhem vom Zentrum für europäische Politik CEP in Paris und gibt Antworten.
Warum will man jetzt wieder Tempo bei der EU-Erweiterung machen?
Das habe vor allem „geostrategische Gründe“, wie Warhem erläutert, „immer mehr Spitzenvertreter der EU erkennen, dass es auch im Sinne der Union ist, Länder in Ost-und Südosteuropa durch eine Mitgliedschaft zu stabilisieren“. Das gilt natürlich für die Ukraine, aber auch für Länder wie Serbien oder Moldawien. So schlägt etwa Frankreich, das bei der Erweiterung bisher am meisten auf der Bremse stand, einen neuen Kurs ein. Die bisherige Haltung – zuerst EU-Reform, dann Erweiterung – wird aufgeweicht. Präsident Macron spricht von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten, damit aber gäbe es dann Mitglieder mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten.
Welche Gefahren sieht man in den möglichen Beitrittsländern?
In der Ukraine etwa könnten sich bei den Wahlen im kommenden Jahr (falls sie abgehalten werden) die politischen Machtverhältnisse ändern. Der Reformeifer, den die Regierung Selenskij derzeit demonstriert, könnte wieder erlahmen, das Land noch tiefer in Korruption versinken. Sorgen bereiten vielen in der EU aber auch der große Einfluss Russlands in Serbien und die Geschäfte der Chinesen dort. Ähnliches gilt für Montenegro, wo Russland ebenfalls versucht hat, politisch mitzumischen. In Bosnien-Herzegowina wiederum gilt der wachsende Einfluss der Türkei, aber auch die massiven Geldflüsse aus Saudi-Arabien als Problem.
Wie groß ist denn der Eifer der Beitrittskandidaten bei der Annäherung?
Der lässt bei den meisten zu wünschen übrig. Serbien etwa macht in den wichtigen Kapiteln kaum Fortschritte, obwohl bereits EU-Gelder fließen. Montenegro war lange Zeit der Musterschüler unter den Beitrittskandidaten, steckt aber seit dem Vorjahr in einer politischen Krise. Albanien kommt bei Reformen nur sehr mühsam voran. Laut aktuellen Studien ist beim derzeitigen Reformtempo der Staaten ein Beitritt bis 2030 äußerst unwahrscheinlich. Man rechnet mit bis rund 20 Jahren Wartezeit.
Außenminister Schallenberg und Europaministerin Edtstadler vertreten die Idee, die Beitrittskandidaten zumindest in ein Vorzimmer der EU eintreten zu lassen, wo sie bereits an gewissen Programmen teilnehmen können. Doch Ideen wie diese stoßen auf massiven Widerstand in der EU-Kommission. Dort will man auf keinen Fall vom etablierten Verfahren des Beitritts abrücken. Das aber bedeutet: Erst müssen alle Kapitel des Beitrittsprozesses abgearbeitet werden, dann erst folgt der Beitritt. Von Macrons Idee eines Europas der zwei Geschwindigkeiten will wiederum Deutschland vorerst nichts wissen. Da aber der politische Druck wächst, die Erweiterung auf jeden Fall voranzutreiben, stehen harte Verhandlungen zwischen den EU-Mitgliedern ins Haus.
Was sind die größten Hürden eines Beitritts?
Bei allen Beitrittskandidaten geht es um die Justiz und das gesamte Rechtssystem, das nicht EU-Standards entspricht. Dazu kommt die überall grassierende Korruption, die etwa die Ukraine so massiv belastet, dass selbst Präsident Selenskij offen darüber spricht. Ein so großes, so armes Land wie die Ukraine als EU-Mitglied würde außerdem die EU in wirtschaftlichen Fragen massiv fordern. Der Bedarf an Förderungen für die Ukraine würde sogar die bisher größten Profiteure von EU-Förderungen, wie Polen oder Ungarn, in Nettozahler verwandeln. Außerdem würde die riesige Landwirtschaft der Ukraine nicht nur Unmengen an Agrarförderung beziehen, sondern wäre auch eine existenzgefährdende Konkurrenz für Agrarländer wie Frankreich oder Polen.
Außerdem ist die Ukraine ein Land im Krieg, der – soweit absehbar – nicht rasch enden wird. Auch wenn dieser Krieg langfristig eingefroren wird, wäre ein Beitritt für die EU rechtlich neues Territorium und würde Fragen aufwerfen, wie etwa die eines verpflichtenden Beistands.
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