"Existenzielle Herausforderung": Der Rettungsplan für Europas Wirtschaft
Zumindest die Warnrufe waren absolut unmissverständlich. Es gehe hier um eine "existenzielle Herausforderung" für Europa, erklärte Mario Draghi in der EU-Zentrale in Brüssel, die internationale Presse vor und Kommissionschefin Ursula von der Leyen neben sich: "Entweder wir tun das jetzt, oder wir sterben einen langsamen Tod."
Europa ist ins Hintertreffen geraten
Was zu tun ist, das hat der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank in einem rund 400-seitigen Bericht zusammengetragen. Er ist das Ergebnis monatelanger Auseinandersetzungen mit Experten, die die Situation, oder besser gesagt, die tiefe Krise der europäischen Wirtschaft analysiert und mögliche Lösungsansätze gefunden haben. Die Krise bringt Draghi schmerzhaft auf den Punkt. Die Produktivität europäischer Arbeitskräfte liegt weit hinter jenen, die in den USA, oder in China zu Werke gehen. Das aber liegt nicht an hohen Löhnen, oder langen Urlauben, sondern daran, dass in den Sektoren, in denen heute und auch in naher Zukunft das große Geld verdient wird, Europa nur eine Nebenrolle spielt. Allen voran die digitale Wirtschaft, von der Chips-Produktion bis zu den Software- und Internet-Giganten.
Es gibt Aufholchancen in einigen Branchen
In vielen Sektoren der Wirtschaft aber gebe es Chancen für Europa, sich an der Spitze zu positionieren. Pharmaindustrie, grüne Energie, High-Tech-Materialien und Maschinen und nicht zuletzt die Rüstungsindustrie. Hier könne Europa vorne mitspielen, aber dafür brauche es grundlegende Reformen - und sehr, sehr viel Geld.
Mehr Geld als für den Marshall-Plan nach dem Weltkrieg
Als erstes brauche Europas Wirtschaft Investitionen - und das in einem Umfang, wie ihn Europa seit den Wiederaufbau-Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen hat: Größer als der Marshall-Plan, mit dem die USA damals halfen, das zerstörte Europa neu aufzubauen. Rund 800 Milliarden Euro an Investitionen in Europa - pro Jahr! - seien notwendig. Das Geld aber könne natürlich nicht nur der Markt, also internationale Unternehmen, aufbringen. Es brauche dafür Geld der Regierungen, vor allem aber der EU.
Gemeinsame Schulden nur für Kernaufgaben
Draghi und auch Kommissionschefin Von der Leyen wissen, wie heikel dieses Thema ist und wie sehr es die EU spaltet. Während etwa Frankreich auf neue Schulden, also gemeinsame EU-Anleihen drängt, wollen Staaten wie Deutschland und Österreich vorerst nichts davon wissen. Ähnlich umstritten ist die Finanzierung durch eigene Einnahmen der EU, etwa aus der Treibhausgas-Besteuerung, oder Importzöllen. Doch diese gemeinsamen Gelder sind notwendig, macht Draghi deutlich: Für Infrastruktur, wie etwa ein gemeinsames Energienetz, eine gemeinsame Verteidigung und um Forschung und Innovationen voranzutreiben.
Überlegungen, die aber schon nach der Präsentation Draghis auf Ablehnung stießen. So nennt etwa Angelika Niebler, führende EU-Parlamentarierin der deutschen CDU/CSU die Vorschläge zu "neuen Schulden" einen Wermutstropfen" in Draghis Plänen.
Freie Bahn für Konzernfusionen
Doch Draghi stellt nicht nur bei diesem Thema EU-Prinzipien grundlegend in Frage, ähnlich radikal ist seine Forderung, die Fusion von Unternehmen und damit die Entstehung europäischer Großkonzerne zu erleichtern. Im Telekom-Sektor etwa, oder in der Rüstungsindustrie sollen global konkurrenzfähige Riesen entstehen. Und die sollen auch bei öffentlichen Aufträgen bevorzugt bedient werden. Eine Antwort auf das "America First", mit dem die US-Regierung heimische Unternehmen fördert.
Billige Energie muss her - mit allen Mitteln
Um diese industrielle Aufholjagd zu starten, braucht Europa aber auch ganz praktische und kurzfristige Unterstützung, vor allem billigere Energie. Die koste in den USA ein Drittel der europäischen Preise, bei Erdgas sei der Unterschied noch größer. Diese Energielücke müsse geschlossen werden, mit allen "verfügbaren Mitteln": Rascher Ausbau der Energienetze unter erleichterten Bedingungen, ein Ende der Preisregelungen, die sich immer nach dem teuersten Anbieter richten würden.
Große Skepsis, vor allem in den EU-Staaten
Maßnahmen, die allesamt nicht nur Entscheidungen in der EU-Zentrale, sondern auch in den EU-Hauptstädten verlangen. Und die, so urteilen viele politische Spieler in Brüssel, seien da schwer auf einen Nenner zu bringen: Egal ob bei den gemeinsamen Schulden, Stromtrassen, oder Preisregelungen für Energie. So groß EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen den Draghi-Bericht angekündigt hat, so klein ist ihre Chancen viele der heiklen Forderungen auch durchzubringen. Der Bericht, urteilt das Fachmagazin "Politico" etwa, könnte - wie viele andere derartige Berichte - auch als "Türstopper für viele Türen in Brüssel" enden.
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