„Beim Regieren hat er nicht so viel Freude wie erwartet und müht sich sichtlich ab“, analysiert Pete Dorey, Professor für britische Politik an der Universität Cardiff, der den 56-Jährigen „eine britische Version von Donald Trump“ nennt. „Johnsons Grenzen wurden heuer erbarmungslos aufgedeckt. Er ist kein Detailmensch. Und er hat so manche Frage falsch beantwortet, was zu Fragen über seine Ehrlichkeit und Kompetenz geführt hat.“
Tatsächlich klagen Kritiker seit Monaten über Unentschiedenheit und „Kehrtwendungen“ Johnsons. So auch als er einen zweiten Lockdown in England ankündigen musste. Dass der Premier im September eine Frage zu den eigenen Corona-Regeln falsch beantwortete, sahen viele als neuen Tiefpunkt. In der Krise sind Planung und Durchführung gefragt, aber das sind nicht Johnsons Stärken. „Er hat eine größere Toleranz für Chaos, Gefahr und Verwirrung als die meisten Menschen“, sagt Johnson-Biograf Andrew Gimson dem KURIER. Johnson arbeite und lerne nach einem anderem Prinzip: „Versuch und Irrtum“.
Guto Harri, der 2008 bis 2012 als Kommunikationschef diente, als Johnson Bürgermeister von London war, kennt ihn auch als „sehr instinktiven Politiker“. Aber bei Themen wie Corona und Brexit sind Instinkte „fast nicht erlaubt“, sagt er dem KURIER. „Deshalb fühlt er sich nicht wohl.“
Kein Wunder, dass Johnson, der sich volkstümlich auch gerne ohne Bagger, dafür aber mit schlecht sitzenden Schutzhelmen beim Besuch von Infrastrukturprojekten zeigt, in der Gunst von Wählern und Parteikollegen verloren hat. In Umfragen liegt Labour dieser Tage oft ungefähr gleich auf mit den Konservativen. Ein Meinungsumfragen-Institut fand Ende September sogar, dass die Linke erstmals seit Sommer 2019 die Nase vorn hat. Bei der Kanzlerfrage führt laut YouGov Labour-Boss Keir Starmer mit 33 Prozent mit vier Prozentpunkten Vorsprung.
Dass das Land in vielerlei Hinsicht zerstritten ist und nach Identität sucht, ist eine weitere Herausforderung für den Premier. „Das Vereinigte Königreich wird mit jedem Monat weniger vereint“, sagt Dorey. Die Unterstützung für ein unabhängiges Schottland nimmt zu, und Johnsons Kommentar, dass Tony Blairs Abgabe von Macht an die Regionalregierung dort „ein Desaster“ gewesen sein, kam wie eine Abrissbirne. Auch die Nord-Süd-Kluft in England, die Johnson mit Investitionen in Ex-Labour-Bezirken in ärmeren Regionen im Norden verringern will, ist noch mehr ins Blickfeld gerückt, weil diese bisher von den strengsten Corona-Maßnahmen betroffen sind.
Deshalb versuchen sich der Premier und sein Team jetzt als Architekten eines Neustarts, der weniger Chaos und mehr Zusammenarbeit bringen soll. Nach dem Abgang von Chefberater Dominic Cummings und Kommunikationschef Lee Cain, bei dem Johnsons Verlobte Carrie Symonds eine wichtige Rolle spielte, ist der Ex-Banker Dan Rosenfield Stabschef. Er soll Ordnung in die Regierung bringen. Das gelang Johnson mit dem richtigen Stabschef auch nach einem Fehlstart als Bürgermeister. Bale sagt, der Premier werde versuchen, mehr auf „seine Hauptstärke zu bauen, nämlich die Fähigkeit, Optimismus für die Zukunft Großbritanniens zu vermitteln“. Vom Brexit-Drama abgesehen, spricht er tatsächlich mehr über Visionen wie den grünen Wiederaufbau des Landes nach Corona.
„Er wirkt beschwingt“, diagnostiziert Harri, der weiß, dass eine Büste von Perikles, dem Staatsmann der griechischen Antike und Meister der Redekunst, in Johnsons Büro steht. Vielleicht hat der ihn ja wieder einmal inspiriert. Auch Gimson warnt davor, Johnson abzuschreiben. „Seine Kritiker neigen dazu, ihn zu unterschätzen“, sagt er. „Aber er ist enorm widerstandsfähig“.
Dennoch glaubt Dorey, dass Johnson bis zum Sommer den Hut oder eben den Schutzhelm nehmen könnte, wenn er seine Regierung nicht sanieren kann. Es könnte etwa der populäre Finanzminister Rishi Sunak übernehmen.
„Johnson wird dann viel Geld mit Vorträgen und Veranstaltungen verdienen“, glaubt Dorey. „Das wird seine wahre Stärke sein – als Entertainer und Autor, nicht als ernsthafter politischer Führer in einer Krise.“
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