Nach Wahldesaster stellen sich FDP und Grüne neu auf

Die Freidemokraten, die erstmals seit der Gründung den Einzug in den Bundestag verpassten, tauschen ihre Führungsriege ebenso aus wie die Grünen. Ein schwieriger Neustart für beide Kleinparteien.

Nach dem historischen Debakel bei der deutschen Bundestagswahl - hier geht es zur Livebericht-Nachlese - bleibt in der FDP kein Stein auf dem anderen. Und das mit gutem Grund: Im Vergleich zum Urnengang 2009 kehrten zwei von drei Wählern den Freidemokraten den Rücken, die Partei schaffte mit nur 4,8 Prozent der Stimmen erstmals seit ihrer Gründung 1949 nicht den Einzug ins Nationalparlament.

Am Montag zog der glücklose FDP-Chef Philipp Rösler die Konsequenzen und wird nach nicht einmal zweieinhalb Jahren im Amt zurücktreten. Er erlebte am Sonntag auch sein persönliches Waterloo: In seinem Wahlkreis (Hannover-Land-I) erreichte er nur 2,6 Prozent Erststimmen – weniger als sein Konkurrent von der Linken. Röslers Spitzenkandidat bei der Bundestagswahl, Rainer Brüderle, braucht gar nicht mehr zurücktreten, als FDP-Fraktionsvorsitzendem im Bundestag kam ihm die Fraktion abhanden. Dass auch der gesamte Bundesvorstand der Freidemokraten demissioniert, soll den radikalen Neubeginn zusätzlich deutlich machen.

Lindner wird FDP-Chef

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Free Democratic Party (FDP) executive board member Christian Lindner reacts after first exit polls in the German general election (Bundestagswahl) in Berlin September 22, 2013. REUTERS/Fabian Bimmer (GERMANY - Tags: POLITICS ELECTIONS)
Wohin die Reise geht, war schnell klar. „An Christian Lindner kommt niemand vorbei“, preschte der schleswig-holsteinische FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki vor. Der angesprochene FDP-Landesvorsitzende von Nordrhein-Westfalen (NRW) zierte sich nicht lange: „Ich habe die Partei in NRW zu einem Zeitpunkt übernommen, zu dem die Lage aussichtslos erschien – und die FDP ins Landesparlament zurückgeführt. Ich werde jetzt die Gesamtpartei erneuern“, sagte der 34-Jährige.

Nach der „historischen Zäsur“ sei eine Phase der „Besinnung und Neuorientierung“ nötig. Es sei zwar „nicht alles falsch gemacht worden“, aber „manches war offenbar auch nicht überzeugend“, und „das eigene politische Angebot wurde vernachlässigt“, analysierte Lindner. Sein Ziel sei es, die Partei wieder im Bundestag zu verankern, denn „es gibt viel mehr Liberale als uns am Sonntag gewählt haben“.

Beobachter machen vor allem zwei Gründe für das katastrophale Abschneiden der FDP verantwortlich. Einerseits die Zweitstimmen-Kampagne, die die Partei nach dem Flop in Bayern (auch dort flog sie aus dem Landesparlament) in der letzten Woche vor dem bundesweiten Urnengang forciert hat. Damit seien die eigenen Anliegen noch weiter in den Hintergrund getreten, zudem habe Kanzlerin Angela Merkel ihrem bisherigen Koalitionspartner eine Schützenhilfe via Zweitstimme diesmal verweigert. Andererseits sei, so die Analysen, der FDP die Steuerreform auf den Kopf gefallen, von der sie stets geredet habe, die aber nie kam.

Die Folgen der Wahl

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GERMANY ELECTIONS
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600 Jobs sind weg

Dass die Freidemokraten aus dem Bundestag flogen, kostete nicht nur deren Chef den Job, bis zu 600 weitere Arbeitsplätze sind perdu. Auf einen Schlag haben 93 Bundestagsabgeordnete ihr Mandat verloren. Jeder von ihnen hatte durchschnittlich drei Mitarbeiter. Dazu kommen Zuarbeiter in den Wahlkreisbüros der Politiker im ganzen Land. Insgesamt sind laut Angaben der Fraktion 500 bis 600 Beschäftigte vom Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde betroffen.

Der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) befürwortet nach dem Wahlsieg der CDU/CSU bei der deutschen Bundestagswahl vom Sonntag eine Große Koalition mit den deutschen Sozialdemokraten. Die SPD wäre im Vergleich zu den Grünen der "interessantere Partner" wegen ihres "gewaltigen Einflusses im Bundesrat", der zweiten Kammer des deutschen Parlaments, wie Stoiber am Montagabend in einem Interview in der ZIB2 des ORF-Fernsehens sagte.

Stoiber appellierte an die "staatspolitische Verantwortung" der SPD, mit der man bereits von 2005 bis 2009 eine "erfolgreiche Koalition" gebildet habe. Mit den deutschen Grünen sieht Stoiber "keinen gemeinsamen Weg". Eine Koalition mit dieser Partei brächte "große Probleme in der zweiten Kammer". Eine Minderheitsregierung der CDU/CSU falls sowohl SPD als auch Grüne eine Koalitionsregierung verweigern sollten, ist angesichts "der großen Probleme in der EU" für Stoiber "nicht vorstellbar".

Finanzminister Wolfgang Schäuble appellierte ebenso an das Verantwortungsgefühl der politischen Mitbewerber, allerdings beider Parteien: SPD und Grüne sollten sich der Bildung einer möglichen Koalition mit der Union nicht aus parteipolitischen Erwägungen verweigern. "Wir haben alle gelernt, dass wir auch eine Verantwortung für den Staat haben", sagte der CDU-Politiker am Montagabend im ZDF.

Tabula Rasa in den Spitzengremien der Grünen: Am Tag eins nach der bittersten Wahlniederlage in der Geschichte der deutschen Ökopartei gab es am Montag Serienrücktritte. Von den Wahlkampf-Frontleuten Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckard bis zu den Parteichefs Cem Özdemir und Claudia Roth werden etliche Grünen-Spitzenfunktionäre im Vorstand und Parteirat im Herbst ihre Ämter niederlegen. Roth will allerdings nach einem Bericht von Spiegel Online nicht mehr für das Amt der Vorsitzenden kandidieren. Sie kündigte an, sich um das Amt der Bundestags-Vizepräsidentin bewerben zu wollen.

Die Suche nach Gründen für die schmerzhaften Verluste (minus 2,3 Prozentpunkte auf 8,4 %)hat voll eingesetzt. Der Zorn der Partei richtet vor allem gegen Fraktionschef Jürgen Trittin. Der ehemalige Umweltminister der rot-grünen Regierung Schröder war der Motor jener Sozialreform- und Steuererhöhungspläne, die offensichtlich auch viele eigene Wähler schwer verprellt haben. Ehrgeizige Visionen für eine gerechtere Umverteilung der Vermögen und höhere Bildungsausgaben hätten es sein sollen – hängen geblieben aber sind bei den Wählern letztlich nur drohende, massive Steuererhöhungen. Warnungen aus dem gemäßigten Parteiflügel, mit solch einem Kurs vergrätze man die politische Mitte, schlugen Trittin und der linke Parteiflügel in den Wind.

Pädophilie-Debatte und der Vorschlag, in Kantinen einen fleischlosen Tag einzuführen („Veggie day“) taten ihr übriges, potenzielle Wähler abzuschrecken. Von ihren eigentlichen Kernthemen – Umwelt, Energiewende, Klimaschutz – war im Wahlkampf hingegen erst zu hören, als die Umfragen bereits in den Keller stürzten.

„Sauschlecht“

„Wir haben im Wahlkampf den Eindruck gemacht, dass wir eine Verbotspartei sind“, gab sich Noch-Grünen-Chef Cem Özdemir kleinlaut. Die Niederlage sei „hausgemacht, da gibt es nichts zu beschönigen“. Andere Grüne, wie etwa Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn, waren deutlicher: „Wir hatten eine sauschlechte Kampagne.“ Und der bayerische Grünen-Landeschef Dieter Janecek polterte: „Jetzt muss alles schonungslos auf den Tisch kommen – inhaltlich, aber auch personell.“

„Danke, danke, wunderbar“, bremste Angela Merkel mit ihrem besten Lächeln den Applaus der Mitarbeiter im Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Zentrale, bevor sie sich in dessen Foyer der Presse stellte. Aufgeräumt kommentierte sie den historischen Erfolg der Union, den ihr Sonntag 41,5 Prozent der 44 Millionen wählenden Deutschen mit 311 von 630 Bundestagssitzen beschert hatten.

„Mit Ausnahme der Arbeitslosen sind wir in allen gesellschaftlichen Gruppen die größte Kraft.“ Merkel betonte, dass „wir auch das Vertrauen der Jungen gewonnen haben“, was bis jetzt immer als große Schwäche der CDU galt. Ihre Chefin dankte der FDP und „bedauerte“, dass die mit 0,2 Prozent unter der Fünf-Prozent-Hürde den Einzug in den Bundestag verfehlt hat. Dadurch ist die bisherige bürgerliche Mehrheit, mit der Merkel vier Jahre regiert hatte, verloren.

Ausdrücklich sagte Merkel im Statement und auf mehrere Fragen zum 4,7-Prozent-Überraschungserfolg der Euro-kritischen „Alternative für Deutschland AfD“: „Bei der Europapolitik gibt es keinen Änderungsbedarf.“

Die Wahl sei ein „Votum für die Interessen Deutschlands und eines vereinten Europas“. Es gelte aber „weiter, dass wir in Europa schaffen, was wir in Deutschland geschafft haben: Vom kranken Mann Europas zum Stabilitätsanker zu werden. Auch diese Länder müssen das Vertrauen der Investoren wiedergewinnen.“ Deutschland leiste dazu „übergroße Beiträge“ und werde auch in der nächsten EU-Finanzperiode „deutlich mehr zahlen“.

„Blau war gestern“

Fragen nach ihrer Stimmung beim Aufwachen am Montag Morgen beantwortete sie launig: „Es hätte ruhig noch eine Stunde länger sein können, ich habe immer noch einen Nachholbedarf an Schlaf.“ Beim Blick in den Kleiderschrank habe sie sich gegen den Blazer vom Vortag entschieden: „Blau war gestern“, spielte sie offenbar auf die AfD-Farbe an.

Auf Koalitionsverhandlungen wollte Merkel nicht drängen: „Seriosität geht vor Schnelligkeit, notfalls auch bis Weihnachten“. Deshalb habe sie zwar mit SPD-Chef Sigmar Gabriel wegen Sondierungsgesprächen telefoniert, respektiere aber seinen Wunsch nach Abwarten des SPD-Konvents am Samstag. Die SPD ist neben den Grünen die einzige Option für eine Mehrheit und gilt als der viel wahrscheinlichere Partner Merkels.

Auch wenn die SPD-Spitzen dies bei ihrer Pressekonferenz herunterspielten. „Der Ball liegt jetzt bei Frau Merkel“, wiederholten Gabriel und der SPD-Ex-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück mehrfach, was sie schon am Wahlabend gesagt hatten. „Wir stehen nicht da, um uns wie die FDP von Frau Merkel ruinieren zu lassen, es gibt keinen Automatismus in irgendeine Richtung“, sagte Gabriel, „die SPD drängt sich nicht auf.“

SPD-Chefs lakonisch

Bei der Kommentierung ihres 25,7-Prozent-Ergebnisses, des zweitschlechtesten nach 2009, blieben die zwei, die sonst keine Gelegenheit zur pointierten Interpretation von Fakten und Gefühlen auslassen, ebenfalls lakonisch. „Natürlich hätten wir uns ein besseres Ergebnis gewünscht, und natürlich wäre ich lieber in der Situation Merkels, mir nun einen Koalitionspartner suchen zu müssen“, sagte Gabriel.

Auch alle Fragen nach personellen Konsequenzen oder auch nur Veränderungen in Fraktion und Partei blieben so unbeantwortet, dass sich die Journalisten über den Zweck der Pressekonferenz wunderten.

Die einzige Frage, die Steinbrück voll beantwortete, war die, ob er sein Bundestagsmandat annehme: „Ja.“ Er zieht aber nur über die Parteiliste ein: Seinen Wahlkreis bei Düsseldorf verlor er schon zum zweiten Mal an die ihn mit absoluter Mehrheit gewinnende CDU-Kandidatin.

Gabriel wollte sich auch nicht zur Rolle der SPD in Hessen äußern, bei deren gleichzeitiger Landtagswahl sie stärker als im Bund gewann und wo nun die gleiche Koalitionsfrage ansteht. Die FDP, die zuletzt mit 5,0 Prozent doch im Landtag blieb, reicht dem Wahlsieger, dem amtierenden CDU-Ministerpräsidenten Volker Bouffier, nicht mehr zum Regieren aus.

Wählerströme

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Union siegt in allen Altersgruppen

Am erfolgreichsten konnte die Union im Pool ihres bisherigen Koalitionspartners FDP fischen. Fast zwei Millionen liberale Wähler von 2009 machten diesmal zumindest eines ihrer Kreuzchen bei der CDU/CSU. Von gut 18 Millionen Schwarz-Wählern entschieden sich rund 40 Prozent wegen der Person Angela Merkel für die Union.

Fast jede zweite Wählerin (44 %) wählte die Union, von den männlichen Wählern waren es immerhin 39 Prozent. In allen Altersgruppen hat die CDU/CSU die Nase vorn. Am besten schnitt sie bei jenen Wählern ab, die älter als 60 Jahre sind. Von ihnen wählte die Hälfte die Merkel-Partei.

Die SPD hat vor allem bei jungen Männern dazugewonnen. Aber nur ein Fünftel der Wähler begründete das Kreuz bei den Roten mit dem Spitzenkandidaten Peer Steinbrück. Die meisten der SPD-Wähler entschieden sich deshalb für sie, weil sie sie mit sozialem Ausgleich assoziieren.

Die FDP hat vor allem deshalb verloren, weil die Wähler ihre Regierungsarbeit negativ bewerten. Sie haben in ihren Augen ihre Versprechen nicht eingehalten.

In seiner Bilanz des Wahlabends gab sich der Chef der „Alternative für Deutschland“ zufrieden mit den 4,7 Prozent: „Wir sind äußerst stolz“, sagte Bernd Lucke, Parteigründer und -chef.

„Wir haben uns erst im Februar gegründet, jetzt schon 17.000 Mitglieder und Förderer. Nie gelang einer Partei ein so rascher Start, auch wenn wir natürlich etwas über das Fehlen der 0,3 Prozent zum Einzug in den Bundestag enttäuscht sind.“

Die AfD verdanke den Erfolg hochmotivierten Mitgliedern und deren Spenden, sie habe kein Steuergeld und keine Profi-Strukturen wie alle anderen Parteien gehabt.

Die „Alternative“ werde nun die öffentliche Resonanz nutzen, um ihren Kampf gegen die „vertragswidrige Transferunion in der Eurozone bis hin zum Zugriff auf die deutschen Einlagensicherungsfonds der Banken“ argumentativ zu schärfen.

Man setze „sehr große Hoffnung“ in die Europawahl 2014 und die drei Landtagswahlen im Osten, wo man sich nach dem überdurchschnittlich großen Zuspruch bei der Bundestagswahl „ermutigt fühlt“. Laut Lucke und den anderen Vorstandsmitgliedern ist die Stimmung in der Partei: „Jetzt erst recht.“ Für die nächsten Wahlen wolle man auch Profi-Strukturen aufbauen.

Die AfD hat die meisten Wähler von der FDP herübergezogen, die nächst größere Gruppe waren ehemalige Linke-Wähler offenbar in Ostdeutschland. Bei der Wahl zum Europaparlament gibt es nur eine nationale Drei-Prozent-Hürde.

In Österreich hat sich am Montag die „unabhängige, proeuropäische, aber EU-kritische“ Alternative für Österreich formiert. Gründer ist Klaus Diekers aus dem Umfeld des EU-Abgeordneten Hans-Peter Martin.

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