Deutschland wählt: Das Phänomen Merkel
Es ist der dritte Wahlsonntag nach 2005 und 2009, an dem Angela Merkel antritt. Und wieder geht es nicht um die Frage, soll sie weiter regieren, sondern nur: Mit wem? Denn die Stimmung der Deutschen ist mehrheitlich so eindeutig, dass alle Umfragen, auch die allerletzten, keine realistische Alternative zu ihr auch nur andeuten.
Nach acht Jahren Regieren steht Merkels Beliebtheit auf den einsamen Höhen ihrer CDU-Vorgänger Konrad Adenauer und Helmut Kohl in deren besten Momenten. Auch die zweite Nachkriegsgeneration fühlt sich von „ihrer“ Dauerkanzlerin offenbar überwiegend gut regiert, ein europaweit einsames Phänomen politischer Kontinuität.
Die CDU-Chefin zieht damit ihre Union zwar nicht in die gleiche Höhe, aber doch in die komfortable Position der größten Volkspartei – mit Regierungsverantwortung.
Auch nicht ihr Entdecker Helmut Kohl hatte das der Ostdeutschen zugetraut, als er sie nach der Wende 1990 nach Bonn holte. Dessen krasseste Außenseiterin legte den raschesten Aufstieg hin. Den auch die Biografen nicht voll ausdeuten können. Je länger sie regiert, desto klarer werden aber die Konstanten. Unbestritten ist eine Intelligenz, mit der die studierte Physikerin weit über das Mittelmaß deutscher Politik hinausragt. Nach wenig charismatischem Anfang als CDU-Chefin strahlt sie inzwischen auch hohe emotionale und soziale Kompetenz aus. Mit ihrer echten Herzlichkeit geht sie aber sparsam um.
Intellektuelles Spiel
Klugheit kann einsam machen wie Macht. Und große Macht tut es sicher.
Die ist bei ihr gepaart mit eisernen Nerven. Nur sie lassen Merkel die Multibelastung des wichtigsten Regierungschefs Europas als intellektuelle Herausforderung auf allerhöchstem Niveau genießen. Das sei, sagen ihre besten Kenner, ihr Motiv für den Dauer-Mega-Stress. Ihre Ausdauer und Konzentration nötigt auch Gegnern zu Hause und in Europa Hochachtung ab. Die investiert die 59-Jährige auch in Verhandlungs-Vorbereitung und Aktenwissen wie vor ihr nur SPD-Kanzler Helmut Schmidt.
Nie aber lässt sich Merkel den Adrenalinrausch der Macht anmerken wie viele Vorgänger und männliche Kollegen zwischen London und Moskau. Der moderate persönliche Lebensstil ist ohnehin tabu. Aus dem und ihrem Äußeren nährt sich das Wort von „Mutti“, eine auch ihr inzwischen willkommene Ironie Berliner Journalisten.
Zu Muttis Macht gehört – natürlich – auch Härte, die durchaus persönlich werden kann. Wie Merkel systematisch alle, aber auch alle, potenziellen Konkurrenten aus ihrer Partei wegbeißt, das ist klassische Machtpolitik – ohne Zeichen von Emotion oder Dankbarkeit, die Helmut Kohl noch verdienten Leuten gewährte.
Dies öffnet allerdings, wie an früheren Fürstenhöfen, Raum für eine große, vielleicht die größte Schwäche: Merkels Personalpolitik. Sie umgibt sich zunehmend nur mehr mit mittelmäßigen Leuten. Die dürfen sich keine eigene Meinung und schon gar nicht politische Führung leisten. Nur organisatorische Pflichterfüllung ist geboten.
Blasse Bilanz
Das gilt für die jetzt abtretende Regierung, deren Bilanz schwach ausfällt – und das nicht nur gemessen an eigenen Versprechen im Wahlkampf 2009. Es gilt auch und noch mehr für ihr Management der CDU. Die steht optisch nur so gut da, weil Merkels Dominanz jede Diskussion erstickt. Wie es unterhalb der Berliner Ebene aussieht, zeigen 13 von und mit ihr fast in Serie verlorene Landtagswahlen – auch ein Rekord.
Wenn von ihren Schwächen die Rede ist, darf die Kehrseite ihres Regierungsstils mittels exzessivem Pragmatismus nicht fehlen. Denn zum Phänomen Merkel gehört eminent, wie sie Gegner und Partner programmatisch aussaugt. Die SPD ist und war beides – und erleidet es gerade heute am Wahltag wieder: Weil Merkel, um den sozialdemokratischen Hauptgegner aus der Mitte zu drängen, viel Gesellschaftspolitisches von ihm übernahm, ist sie nun dort viel stärker als er.
Konservative und Liberale inklusive des Noch-Koalitionspartners FDP aber fühlen sich verlassen. In dieses rechte Vakuum stößt nun die neue Euro-kritische „Alternative für Deutschland“, vielleicht sogar schon heute im Bundestag. Das wäre unberechenbar, auch für Europa.
Hier hilft Merkels Rezept dann nicht mehr: Abwarten und die Dinge sich selbst klären lassen. Mit Ausnahme des abrupten Atomausstiegs unter dem Vorwand Fukushima, der das für sie gefährlichste Wahlkampfthema eliminierte, war dieses Zögern ein Hauptelement des Systems Merkel. Auch wenn diesen sonst ruhigen Stil die Deutschen zu mögen scheinen: Ob sie ihr nicht doch mehr Führung und Standfestigkeit beim auch deutschen Schicksalsthema Euro signalisieren, ist die wirklich spannende Frage dieser Wahl.
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In den letzten Umfragen vor den Wahlen lag Deutschlands größte Partei, die Union aus CSU und CDU, unter 40 Prozent. Damit würde sie zumindest eine weitere Partei brauchen, um regieren zu können. Welche Koalitionen sind denkbar?
Schwarz-Grün Eine Mehrheit wäre rein rechnerisch möglich. Laut Umfragen käme man gemeinsam auf 48 Prozent. Aber Konservative und Grüne liegen inhaltlich extrem weit auseinander. Die Ökopartei setzte zuletzt auf ein explizit linkes Wahlprogramm, etwa mit Steuererhöhungen, und verschreckte damit offenbar viele Wähler. Dass sie nach der Wahl einen radikalen Kurswechsel vollzieht und sich der CDU/CSU annähert, gilt als unwahrscheinlich.
Rot-Rot-Grün SPD, Linke und Grüne könnten gemeinsam eine Mehrheit schaffen – wahrscheinlich ist sie aber nicht. SPD und Linke liegen in vielen wirtschafts- und außenpolitischen Fragen zu weit auseinander.
Jamaika, Ampel Alle diese Dreier-Koalitionen gelten als wenig realistisch. Jamaika (Schwarz-Gelb-Grün) scheitert so an zu großen, ideologischen Unterscheiden der Parteien untereinander wie die Ampel (Rot-Gelb-Grün).
Bahamas-Koalition Schwarz-Gelb-Blau ist genauso unrealistisch: Blau steht für die eurokritische „Alternative für Deutschland“ (AfD). Umfragen kurz vor dem Wahltag sagten der AfD den Einzug in den Bundestag voraus.
Neues Wahlrecht / Erststimme–Zweitstimme
Mit der „Erststimme“ wählt man einen Abgeordneten direkt in den Bundestag. Die Gesamtzahl der Sitze im Parlament (regulär 598) wird nach den „Zweitstimmen“ berechnet. Mit dieser Stimme unterstützt der Wähler eine Partei.
Unter jenen Parteien, die die Fünf-Prozent-Hürde schaffen, werden die Mandate anhand der Zweitstimmen aufgeteilt. Hat eine Partei mehr Direktmandate als ihr durch die Zweitstimmen zusteht, erhält sie „Überhangmandate“ (Profiteure sind große Parteien). Dadurch wird die Zahl der Bundestagssitze größer als 598. Zur Wiederherstellung der Verhältnismäßigkeit bekommen die anderen Parteien „Ausgleichsmandate“. Das heißt, dass noch mehr Sitze in den Bundestag kommen, bis das Verhältnis wiederhergestellt ist.
Der älteste Abgeordnete des Bundestags ist Heinz Riesenhuber (CDU). Die Liste der politischen Tätigkeiten und Auszeichnungen des 77-jährigen ehemaligen Ministers ist lang. Ganz im Gegensatz zu jener von Florian Bernschneider (FDP), der mit 27 Jahren der jüngste Abgeordnete ist – und damit noch ein halbes Jahrhundert Zeit hat, um auch zu einer ähnlich eindrucksvollen Biografie zu kommen.
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