Krönungsmesse mit Fragezeichen: Überdauert die Harris-Euphorie den Parteitag?
Wenn Amerikas Demokraten ab heute Abend im weiträumig abgeschirmten "United Center" im schwül-heißen Chicago zusammenkommen, um Kamala Harris offiziell die Präsidentschaftskandidatur anzutragen, finden die politisch turbulentesten vier Wochen der jüngeren amerikanischen Geschichte ihren vorläufigen Höhepunkt.
Mit dabei: ehemalige US-Präsidenten, Hollywoodstars und sehr wahrscheinlich Zehntausende Demonstranten.
Nach dem abrupten Verzicht durch Amtsinhaber Joe Biden (81) aus Altersgründen, wurde das Drehbuch für die viertägige "convention" am Ufer des Michigans-Sees im Eiltempo umgetextet.
Ohne böses Blut oder konkurrierende Bewerbungen versammelte sich die innerlich tief zerklüftete Partei in Windeseile hinter der bis dahin oft angezweifelten Vize-Präsidentin. Die 59-Jährige wurde bereits bei einer Online-Abstimmung offiziell mit 99 Prozent der Delegierten-Stimmen bestätigt.
Mit dem Gouverneur des Bundesstaates Minnesota, Tim Walz (60), präsentierte Harris einen Vize-Präsidentschaftskandidaten, der bis ins konservative Lager hinein ideologisch anschlussfähige Bodenständigkeit besitzt. Sie soll den Demokraten in den "Rostgürtel"-Bundesstaaten nutzen. Walz ist schon heute in Umfragen entschieden beliebter als sein republikanisches Gegenüber J.D. Vance.
Umfragewerte und Spenden auf Harris' Seite
Die ersten Resultate sind klar: Harris und Walz haben die deutlichen Umfragen-Vorsprünge Trumps binnen weniger Wochen fast durchweg neutralisiert; vereinzelt liegt das Duo bereits vorn. Junge, Alte, Parteiunabhängige, Afro-Amerikaner, Frauen und auch Weiße mit niedrigem Bildungsabschluss können sich plötzlich für die Demokraten erwärmen. Spenden fließen in Strömen. 80 Tage vor der Wahl gibt es laut Meinungsforschern eine "reale Siegchance" für Harris, die sich als Außenseiterin verkauft.
Bei dem Parteitag im "Wohnzimmer" Barack Obamas, der in Chicago seine Karriere begann und zu dem gut 50.000 Delegierte, Journalisten und politische Gäste aus aller Welt erwartet werden, soll "die Euphoriewelle konserviert werden", sagen Harris-Berater. Hartnäckig halten sich darum Gerüchte, dass zwei pop-kulturelle Super-Stars – Beyoncé und Taylor Swift – für einen zusätzlichen Vitaminschub sorgen könnten. Hollywood-Stars wie Octavia Spencer und Uma Thurman haben sich angesagt.
Biden nimmt Abschied
Am Auftaktabend hat Joe Biden nach einer Ansprache von Hillary Clinton seine große Abschiedsstunde. Er wird den Staffelstab an Harris weitergeben. Hoher Taschentuch-Faktor ist vorprogrammiert. Am Dienstag hält Barack Obama die zentrale Rede. Der Mittwoch gehört Ex-Präsident Bill Clinton und Vize-Präsidentschaftskandidat Tim Walz. Am Schlusstag schaut alles auf Kamala Harris, die dann ihre vor fünf Wochen noch undenkbar gewesene Kandidatur annehmen wird.
Harris wird sich dabei nach 2020, als sie von der Senatorin zur Vize-Präsidentin aufstieg, zum zweiten Mal dem amerikanischen Volk vorstellen. Ihr steht ein Spagat bevor: eigene Akzente zu setzen, ohne die Politik Bidens zu beschädigen – und damit sich selbst.
Fragezeichen bei Wirtschaftsprogramm und Israel-Unterstützung
Als Vorgeschmack kündigte Harris sozialdemokratisch angehauchte Eingriffspolitik ein, die auf die wirtschaftlichen Sorgen vieler Mittelschichts-Amerikaner zielt. So soll ein Gesetz gegen Preiswucher her – eine Reminiszenz an die unverändert hohen Lebensmittelpreise. Realisierungschancen: ungewiss. Experten raten ab. Erstkäufern von Immobilien soll mit jeweils 25.000 Dollar unter die Arme gegriffen werden. Mietwucher wird der Kampf angesagt. Steuergutschriften für Familien sollen im ersten Lebensjahr pro Kind auf 6.000 US-Dollar erhöht werden. Niedere Einkommen dürfen auf Zuschüsse bei der Krankenversicherung hoffen. Außerdem werden die Preise für verschreibungspflichtige Medikamente gedeckelt.
Weil Harris nicht sagt, wie die Mehrkosten in Billionen-Höhe finanziert werden sollen, setzt es bereits massive Kritik. Republikaner sprechen von "kommunistischer Preiskontrolle". Kommentatoren in US-Medien haben einer populistische Mogelpackung ausgemacht.
Der Krieg zwischen Israel und der radikal-islamischen Hamas stellt den größten Unsicherheitsfaktor dar. Zehntausende Demonstranten haben sich annonciert. Sie verlangen von Harris ein Bekenntnis, die israelische Militärmaschine zu stoppen und palästinensische Zivilisten zu schützen. Gewalttätige Ausschreitungen sind bei den Protest-Aktionen nicht ausgeschlossen. Die Polizei in Chicago ist mit einem XXL-Aufgebot vorbereitet.
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