Das Grauen von Mariupol: "Die meisten müssen wir liegenlassen"
In der belagerten Hafenstadt zeigt sich die russische Armee von ihrer brutalsten Seite. Die Menschen haben weder Strom noch Wasser, Tote liegen in den Straßen.
„Es ist ein Wunder“, schrieb die ukrainische Parlamentsabgeordnete Olga Stefanyschyna am Donnerstag auf Facebook, „eine gute Nachricht, die wir so dringend brauchen“: Der Luftschutzbunker unter dem Theater der Hafenstadt Mariupol, das am Mittwoch von russischen Artillerieangriffen zerbombt worden war, hat standgehalten. Knapp 1.000 Zivilisten hatten dort Schutz gesucht, etwa 130 konnten am Donnerstagvormittag bereits aus den Trümmern fliehen.
Der Beschuss des Theaters ist das jüngste Beispiel der Ruchlosigkeit, mit der die russische Armee in Mariupol vorgeht. Das Gebäude wurde bombardiert, obwohl Satellitenbilder beweisen, dass vor Tagen auf beiden Seiten des Theaters in großen weißen Buchstaben das russische Wort „Deti“ auf die Straße gemalt worden war – auf Deutsch: „Kinder“.
Kein Wasser, kein Strom
Seit knapp zwei Wochen wird Mariupol schon von der russischen Armee belagert, es gibt kaum einen Weg aus der Stadt, weil die Fluchtkorridore von den Russen beschossen werden. Auch Hilfsorganisationen kommen nicht hinein. Die meisten Einwohner sind bei eisigen Temperaturen von der Wasser-, Strom- und Gasversorgung abgeschnitten, auch Lebensmittel und Medikamente gehen zur Neige. In ihrer Not trinken viele das Wasser aus den Heizungsrohren oder sammeln Schnee.
Die Situation führt dazu, dass Verzweifelte auf der Suche nach Nahrung oder Handy-Empfang ihre Zufluchtsorte verlassen und sich auf die Straßen wagen, die täglich heftig bombardiert werden. Vize-Bürgermeister Serhij Orlow sagte in einem Interview kürzlich, dass „80 bis 90 Prozent“ der Häuser in Mariupol bereits von russischen Raketen getroffen worden seien: „Kein einziges Gebäude ist unbeschädigt.“
Die Informationslage vor Ort ist karg. Die meisten Journalisten haben Mariupol früh genug verlassen, zwei Mitarbeiter der US-Agentur Associated Press (AP) sind die letzten verbliebenen internationalen Medienvertreter vor Ort. Sie berichten von unzähligen Toten, darunter viele Frauen und Kinder, die in hastig geschaufelten Gruben bestattet werden.
Bewohner der Stadt teilen Bilder des Grauens in den sozialen Medien. Dabei sind immer wieder Leichen in den Straßen zu sehen, die wegen der anhaltenden Gefahr nicht weggebracht werden können. „Ihr könnt euch das Ausmaß der Tragödie in dieser Stadt nicht vorstellen“, sagt eine junge Ärztin in einem Video. „Bei keiner der Verletzungen geht es um Wunden. Es geht um abgerissene Arme und Beine, um zerteilte Körper.“ Und weiter: „Den meisten können wir nicht mehr helfen, die müssen wir liegenlassen.“
„Terroristen“ im Spital
Die Dreistigkeit der ständigen Behauptung russischer Offizieller, man würde in diesem Krieg keine Zivilisten ins Visier nehmen, wird in Mariupol besonders deutlich. Der Raketeneinschlag in einer Kinderklinik mit Geburtenstation aus der vergangenen Woche wird inzwischen etwa als Kriegsverbrechen verfolgt. 17 Menschen wurden dabei verletzt, eine Schwangere und ihr ungeborenes Kind getötet.
In Moskau versucht man noch nicht einmal, den Beschuss des Krankenhauses als Unfall abzutun. In Wahrheit hätten sich dort keine Zivilisten mehr aufgehalten, sondern etliche ukrainische „Terroristen“ der Asow-Brigade, so der russische Außenminister Sergej Lawrow.
Diese Behauptung zeigt auch, warum gerade in Mariupol derart grausam Krieg gegen die Zivilbevölkerung geführt wird: Die Asow-Brigade ist eine rechtsextreme paramilitärische Miliz, welche die Stadt schon 2014 von den Truppen der Separatisten befreite – auf äußerst brutale Art und Weise. Mariupol ist also nicht nur eine strategisch wertvolle Hafenstadt – sie liegt zwischen der Krim und dem Donbass – sondern auch ein Symbol des ukrainischen Widerstandes. Dafür muss nun offenbar die Zivilbevölkerung büßen.
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