Da blinkt schon was: Erste Ampel-Koalition in Deutschland steht

Etwas mehr als ein Monat haben sie verhandelt, bis zuletzt war kaum nach außen gedrungen, worüber SPD, Grüne und FDP zanken oder worauf sie sich geeinigt haben. Selbst die Bild-Zeitung hatte am Vortag der Hauptverhandlungsrunde nichts Aufregenderes zu vermelden, als dass bis spät in die Nacht verhandelt und eine riesige Kaffeemaschine ins Willy-Brandt-Haus transportiert wird. Ja, was soll man schreiben, wenn die Parteien diesmal so gar keinen Stoff für einen Koalitionskrimi bieten. Statt Durchstechereien erlebten Journalisten Diskretion und Disziplin.
Im Schatten von Corona
Nun steht Olaf Scholz vor ihnen in der Halle im Berliner Westhafen und spricht aber erst einmal nicht über die Koalition. „Die Lage ist ernst“, beginnt der Kanzler in spe seine Rede. Die vierte Corona-Welle hat Deutschland erfasst und Scholz kündigt an, eine tägliche Runde aus Fachleuten einzurichten, die über die Lage informiert, sowie einen Krisenstab, der die Regierung berät. Zudem will die Ampel die Impfkampagne stärken und die generelle Impfpflicht prüfen. Dann ruft er dazu auf, die Coronaregeln zu beachten, um „einigermaßen heil“ durch den Coronawinter zu kommen – ehe er etwas verkündet, das ihn sicherlich erfreut, auch wenn er es nicht so zeigen kann: „Die Ampel steht“.
177 Seiten hat der Koalitionsvertrag, den er an diesem Mittwoch mit den Parteichefs Christian Lindner (FDP), Annalena Baerbock und Robert Habeck (Grüne) sowie seinen Genossen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans präsentiert. „Wir wollen mehr Fortschritt wagen“, betont Scholz und versichert, das Ziel der Ampel-Parteien sei nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern eine „Politik der großen Wirkung“.
Aus Sicht von FDP-Chef Christian Lindner stünde ein Kurswechsel an. SPD, Grüne und FDP hätten ihre Unterschiedlichkeiten in Wahlkämpfen nicht verborgen – „aber wir haben uns in einem Punkt eine Gemeinsamkeit erhalten, nämlich darin, den Status quo zu überwinden.“
Dass es „manchmal ganz schön anstrengend“ war, räumt Grünen-Chef Robert Habeck noch an diesem Tag ein. Die entscheidenden Momente in den Verhandlungen seien gewesen, wenn man voneinander gelernt habe, dann seien neue Lösungen möglich gewesen – ein typischer Habeck-Satz.
In seiner Partei gab’s zwischenzeitlich Unruhe, da sie beim Klimaschutz zu wenig Fortschritt sahen. Die SPD würde der FDP zu sehr entgegenkommen, unkten manche. Doch der ganz große Krach blieb aus.
Dass ihr Kernthema nicht zu kurz kommt, liest man gleich zu Beginn des Koalitionsvertrages heraus. „Die Klimaschutzziele von Paris zu erreichen, hat für uns oberste Priorität“, heißt es in der Einleitung. Der Kohleausstieg soll von 2038 auf 2030 vorgezogen werden – „idealerweise“ steht dazu im Vertrag, eine Formulierung. Bis dahin soll Deutschland 80 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Energien beziehen. zu diesem Zeitpunkt will man auch führend auf dem Bereich der Wasserstofftechnologien sein und den Ausbau von E-Autos vorantreiben. 15 Millionen E-Autos sollen bis dahin auf den Straßen rollen.
Bei gewerblichen Neubauten soll verpflichtend Solarenergie auf die Dachflächen kommen, bei privaten Neubauten soll dies „die Regel werden“. Grünen-Chef Habeck sieht die neue Regierung klimapolitisch auf dem richtigen Weg. „Wir sind auf 1,5-Grad-Pfad mit diesem Koalitionsvertrag.“
In puncto Finanzen dürfen sich SPD und FDP freuen: Der Mindestlohn soll auf 12 Euro angehoben werden, ein Scholz-Versprechen aus dem Wahlkampf. Die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse soll ab 2023 wieder eingehalten werden (was den Liberalen wichtig ist). Im kommenden Jahr müssten wegen der Corona-Folgen noch einmal neue Kredite aufgenommen werden.
400.000 neue Wohnungen
Um Wohnen bezahlbar zu machen, soll die Mietpreisbremse verlängert und verschärft werden. In Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt dürfe die Miete binnen drei Jahren nur um bis zu 11 Prozent steigen statt wie bisher bis zu 15 Prozent. Die Koalition will zudem jährlich 400.000 neue Wohnungen bauen. Aufgrund der gestiegenen Energiepreise soll es einen einmaligen Heizkostenzuschuss für einkommensschwache Familien geben.
Die Ampel-Regierung will auch die kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften einführen. Damit würde „die Qualität kontrolliert, die Weitergabe verunreinigter Substanzen verhindert und der Jugendschutz gewährleistet“. Erstmals hat sich eine Regierung auch darauf geeinigt, Kinder mit einer Grundsicherung aus der Armut zu holen.
Erleichterungen bei Einbürgerung
Beim Thema Einwanderung plant das Dreier-Bündnis Erleichterungen. So soll eine Einbürgerung nach fünf Jahren möglich sein, heißt es im Koalitionsvertrag. Bei besonderen
Integrationsleistungen kann diese Frist auf sechs Jahre verkürzt werden. Ehepartner von Deutschen können bislang nach drei Jahren einen Antrag auf Einbürgerung stellen.
Zudem wollen SPD, FDP und Grüne mehr legale Fluchtmöglichkeiten nach Deutschland schaffen. Über ein humanitäres Aufnahmeprogramm des Bundes soll beispielsweise Menschen aus Afghanistan geholfen werden.
Was ebenfalls im Vertrag steht: "Gut integrierte Jugendliche sollen nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland und bis zum 27. Lebensjahr die Möglichkeit für ein Bleiberecht bekommen. Besondere Integrationsleistungen von Geduldeten würdigen wir, indem wir nach sechs bzw. vier Jahren bei Familien ein Bleiberecht eröffnen."
Ob am Ende alles so bleibt, wie auf den 177 Seiten gedruckt, darüber werden nun noch die Parteien abstimmen - bei SPD und Grüne wird es am 4. und 5. Dezember so weit sein. Bei den Grünen geht es schon morgen los, ab da können etwa 125.000 Mitglieder mitentscheiden.
Siebzehn Ressorts sieht der Koalitionsvertrag vor – eines mehr als in der jetzigen Regierung. Die SPD soll laut Berichten sieben Ministerposten besetzen, darunter das neu geschaffene Ministerium für Bauen und Wohnen. Auch die Bereiche Inneres, Verteidigung, Gesundheit, Arbeit und Soziales sowie Wirtschaftliche Zusammenarbeit gehen an die SPD.
Offizielle Namen will sie erst zum Parteitag am 4. Dezember bekannt geben bzw. darüber abstimmen lassen – genauso wie die FDP, die ihren am 5. Dezember abhält. Dennoch wird bereits seit Wochen spekuliert, im Netz kursieren diverse Namenslisten. So manch genannte Person hat aber bereits klargestellt, kein Amt übernehmen zu wollen.
Was laut mehreren Berichten relativ sicher scheint: Der künftige Kanzler Olaf Scholz dürfte seinen engsten Vertrauten zum Kanzleramtsminister bestellen: Wolfgang Schmidt, ebenfalls Hanseat, ist seit 2018 an Scholz’ Seite Staatssekretär im Finanzministerium.
Was noch bekannt ist: Die FDP soll die Ministerien für Bildung, Justiz, Verkehr und Finanzen besetzen – letzteres könnte Parteichef Christian Lindner führen. Er äußerte schon zuvor mehrmals Ambitionen für das Amt. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung ließ er jüngst wissen, dass er an der Schuldenbremse festhalten wolle.
Die Grünen, die sich ebenfalls für das Ressort interessiert hätten, bekommen ein Klimaschutz- und Wirtschaftsministerium. Dort dürfte Parteichef Robert Habeck die Geschicke lenken. Er wird zudem als Vizekanzler gehandelt.
Im Auswärtigen Amt könnte Annalena Baerbock SPD-Mann Heiko Maas ablösen. Die Namen ihrer anderen Ministerinnen und Minister für die Bereiche Familie, Landwirtschaft und Umwelt wollen die Grünen am Donnerstag bekannt geben – da startet auch die Befragung ihrer Mitglieder zum Koalitionsvertrag.
Gut möglich, dass die Grünen mit dem Wechsel von Baerbock und Habeck in die Regierung demnächst eine neue Parteiführung bekommen. Ricarda Lang und Omid Nouripour könnten nachrücken. Die 27-Jährige gilt als Parteilinke, war Sprecherin der Grünen Jugend und ist neu im Bundestag. Der 46-jährige Nouripour hat sich dort einen Namen als Außenpolitiker gemacht.
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