EU friert Ungarn Gelder ein: Das Ende des "Orbánismus"?
Selbst dem Nationalbankchef und Ex-Wirtschaftsminister György Matolcsy, einem treuen Fidesz-Parteisoldaten, ist es mittlerweile zu viel geworden: "Wir müssen einsehen, dass Ungarn eine wirtschaftliche Krise droht. Wenn wir unsere Wirtschaftspolitik nicht ändern, verspielen wir das nächste Jahrzehnt. Das Krisenmanagement der Regierung der vergangenen Monate hat versagt."
So explizite Kritik aus den eigenen Reihen ist eine Seltenheit, ja gibt es eigentlich nie – und zeigt, wie kritisch die wirtschaftliche Situation in Ungarn ist. Und gerade in dieser Zeit hat sich die Mehrheit der EU-Staaten auf das Einfrieren von 6,3 Milliarden Euro verständigt.
Das Land droht in eine wirtschaftliche Krise zu schlittern. Doch die scheint großteils hausgemacht – auch wenn der nationalpopulistische Ministerpräsident Viktor Orbán mit einer großflächig angelegten Plakataktion im ganzen Land mit der Aufschrift "Brüssels Sanktionen zerstören uns!" die Schuld wem anderen gibt.
Teure Wahlzuckerl
Man erinnert sich an die Parlamentswahl im April, die Orbán zum vierten Mal in Folge mit großer Mehrheit gewann. Den Wahlkampf prägten großzügige Wahlgeschenke wie eine 13. Monatspension für Rentner, keine Einkommenssteuer für junge Ungarn, Steuerrückerstattung für Familien sowie Preisdeckel auf Benzin und Nahrungsmittel. Die Folge: ein Zwillingsdefizit, erklärt Sandor Richter vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche: "Sowohl im staatlichen Haushalt als auch in der Außenbilanz schreibt man rote Zahlen.
Zudem ist die Inflation überdurchschnittlich hoch und der Wechselkurs sehr schwach – alle wirtschaftlichen Kennzahlen, die problematisch sein können, sind es auch." Globale Herausforderungen, wie die hohen Energiepreise und Lieferkettenprobleme, verschärften die Situation zusätzlich. Für 2023 rechnen Ökonomen bereits mit einer Rezession.
Wesentlich für die ungarische Staatskasse: Geld von der EU. "Ungarn ist ein Nettoempfänger", so Richter. Doch ein Teil der Unterstützung fällt jetzt weg: Die Mehrheit der EU-Staaten hat sich auf das Einfrieren von 6,3 Milliarden Euro aus dem europäischen Gemeinschaftsbudget verständigt (ursprünglich war die Blockierung von 7,5 Milliarden Euro geplant). Der Hintergrund: die Sorge, dass EU-Gelder in Ungarn wegen unzureichender Maßnahmen gegen Korruption nicht ordnungsgemäß verwendet werden.
Spott übers EU-Parlament
Die Position Orbáns zu den Vorwürfen: Eine "politische Hexenjagd" sei das, die das "linke" Brüssel gegen Ungarn, seine Traditionen und Werte führe. Noch am Montag spottete er über den aktuellen Korruptionsskandal des EU-Parlaments: "Das Europaparlament sei ernsthaft besorgt über die Korruption in Ungarn", twitterte er höhnisch: "Guten Morgen ans Europaparlament."
Die nur noch formal zu beschließende Einigung hat eine historische Dimension: Ein solches Vorgehen gegen einen EU-Staat gab es zuvor noch nie. Die Beweislast gegen Orbán wiegt auch schwer und wächst, seit er das Amt des Ministerpräsidenten 2010 übernommen hat.
Ein Stadion für Orbán
Da gibt es zum Beispiel das 4.000 Zuschauer fassende Fußballstadion im 1.800-Seelen-Dorf Felcsút, Orbáns Heimatort. Oder die sechs Kilometer lange, kaum genutzte Schmalspurbahn, die dort mit zwei Millionen Euro von der EU errichtet wurde – als "Touristenattraktion".
Aufträge wie diese bekommen meist Firmen von Freunden. Orbáns Schwiegersohn wurde vor Jahren mit Aufträgen zur Modernisierung der Straßenbeleuchtungen in Ungarn überschüttet – subventioniert von der EU. Die Hälfte aller öffentlichen Ausschreibungen erhielt ein Anbieter: Lőrinc Mészáros, Schulkollege Orbáns und heute einer der reichsten Ungarn. Er soll über 200 Firmen kontrollieren. Seine Baufirmen sollen seit 2010 öffentliche Ausschreibungen in der Höhe von sieben Milliarden Euro bekommen haben – 74 Prozent davon kamen direkt von der Union. Mészáros ist – wenig überraschend – Bauherr des Fußballstadions und der Schmalspurbahn.
Ungarn droht eine Rezession, dazu kommt die teilweise Blockierung der EU-Gelder. Nachdem Ungarns ein Veto gegen die angestrebte Mindestkörperschaftssteuer zurückgezogen hat, wird die EU Ungarns Pläne für die Verwendung von EU Hilfsgeldern in Höhe von 5,8 Milliarden Euro genehmigen – allerdings soll die Auszahlung nur unter der Umsetzung von 27 Bedingungen gegen Korruption geschehen. 6,3 Milliarden aus dem aus dem europäischen Gemeinschaftsbudget 2021 bis 2027 will die EU hingegen zurückhalten.
Ungarn ist ein Nettoempfänger in der EU. Pro Jahr bekommt man Fördergelder in der Höhe von vier bis fünf Prozent des BIP.
22,5 Prozent betrug die Inflationsrate im November; 43,8 Prozent bei Lebensmittel. Nach Panikkäufen wurde der Preisdeckel auf Benzin abgeschafft. Ökonomen befürworten die Entscheidung, doch das könnte die Inflation (zumindest kurzfristig) weiter anheizen.
Wackelt das System Orbán?
Auch die Umsetzung der 17 Maßnahmen, die die EU von Ungarn verlangt hat, um der Kürzung zu entgehen, war mehr Schein als Sein, wie der Jobbik-Oppositionspolitiker Koloman Brunner dem KURIER erzählt. So war die verlangte Antikorruptionsbehörde in Budapest nach Eröffnung durchgehend zu, Einreichungen nur online möglich.
Neben der Blockade der 6,3 Milliarden sollen 5,8 Milliarden Euro aus dem Corona-Hilfsfonds nur unter der Umsetzung von 27 Voraussetzungen geschehen. Diese betreffen zum Beispiel die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Justiz und ein Verfahren für die gerichtliche Überprüfung staatsanwaltlicher Entscheidungen.
Diese Maßnahmen könnten, neben der Blockade der Gelder, dem System Orbán weh tun, sind sich Ökonomen sicher. Je strenger sie von der EU verlangt und kontrolliert würden, desto besser könnten staatliche Korruption und Machtmissbrauch in Ungarn, was in kritischen Kreisen bereits unter dem Begriff "Orbánismus" verstanden wird, künftig unterbunden werden.
Ökonom Richter hoffte bis zum Schluss auf eine Auszahlung des Geldes – unter strengsten Bedingungen, betont er –, um die Krise abzufangen. Nicht um Orbáns Willen – sondern den der Ungarinnen und Ungarn.
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