Bringt der Klimawandel neue Flüchtlingswellen?
Der Krieg in der Ukraine, Rekord-Inflation und die Klimakrise - die Österreicher blicken so pessimistisch in die Zukunft wie seit 50 Jahren nicht mehr. Zurecht? Zum Jahreswechsel befragen wir Experten aus sechs verschiedenen Disziplinen dazu, wie sich unsere Welt in den nächsten zehn Jahren verändern wird. Den Beginn machte der Politologe Herfried Münkler. In Teil zwei sprachen wir mit der Arbeitsforscherin Lena Marie Glaser darüber, ob wir künftig nur mehr vier Tage oder gar noch weniger arbeiten werden. Der nächste wird sich einer Welt ohne Wirtschaftswachstum widmen. Sie finden alle Artikel gesammelt hier.
Seine Pläne halfen der EU im Krisenjahr 2015, die Flüchtlingskrise in Europa unter Kontrolle zu bekommen. Die sogenannte „EU-Türkei-Erklärung“, nach der Syrien-Flüchtlinge aus der Türkei kontrolliert nach Europa gebracht und irregulär Einreisende nach einem Stichtag zurückgebracht wurden, wurde von Gerald Knaus konzipiert.
In diesem Sinne sind auch seine Vorschläge für eine humane Migrationspolitik. Der österreichische Autor und Vorsitzende der Denkfabrik „Europäische Stabilitätsinitiative“ in Berlin ist einer der führenden Experten in Fragen Flucht und Migration nach Europa – und berät in diesen Tagen auch die SPÖ bei ihrer Klausur.
Mit dem KURIER sprach Knaus über Herausforderungen für Europa und den zukünftigen Umgang mit Zuwanderern. Kommt die von vielen angekündigte Welle der Flüchtlinge durch den Klimawandel?
KURIER: Flüchtlingswellen, Migrationsdruck auf Europa: Das alles sorgt in diesen Tagen wieder für Schlagzeilen. Wird uns all das weiter begleiten, sich sogar noch verschärfen?
Gerald Knaus: Wir verwenden bei der Beschreibung von Migration viel zu oft Bilder aus der Physik und Hydraulik. Druck, Pull, Push, Fluss, Strom, Welle. Wie viel reguläre und irreguläre Migration es weltweit gibt, bestimmen Regierungen durch ihre Politik. Ob verzweifelte Menschen tatsächlich fliehen können, hängt von der Grenzpolitik anderer Staaten ab.
Niemand war verzweifelter als die jüdische Bevölkerung im nationalsozialistischen Deutschland und in Österreich von 1938 bis 1945. Die Schweiz aber praktizierte an ihrer Grenze Pushbacks.
So schafften es nur wenige dorthin. Seit 1951 gibt es aber die Genfer Flüchtlingskonvention, die das verbietet.
Aber Zahlen und Berichte zur Migration werden doch immer als erschreckend und gefährlich präsentiert.
Dafür haben Politiker und Organisationen unterschiedliche Motivationen. Tatsächlich ist die Zahl der Flüchtlinge unter dem Mandat des UNHCR von Ende 2017 bis Ende 2021 um nur 1,4 Millionen weltweit gewachsen.
In wenigen Wochen sind 2022 mehr Flüchtlinge aus der Ukraine nach Polen gekommen. Warum? Weil die EU für Ukrainer eine offene Grenze hatte. Für andere sind die meisten Grenzen der Welt mit Gewalt geschlossen.
Daher ist auch irreguläre Migration viel geringer als viele denken, dagegen wächst die Zahl der Binnenvertriebenen, der Menschen, die im eigenen Land heimatlos werden.
Gezielte und kontrollierte Aufnahme von Migranten statt tödlicher Irrfahrten durch Wüsten und über das Mittelmeer: In seinem Buch „Welche Grenzen brauchen wir?“ erläutert Gerald Knaus seine Prinzipien für eine Migrations- und Asylpolitik Europas, die ohne Verletzung von Menschenrechten auskommt.
Um seine Ideen zu verdeutlichen, unternimmt Knaus Ausflüge in die Geschichte bis zurück in die Zeit des Nationalsozialismus’, aber er zeigt auch anhand von Ländern wie Kanada, dass auch der Westen menschliche Migrationspolitik machen kann, ohne dabei von einer Flüchtlingswelle überrollt zu werden. Knaus zeigt sich nicht nur als historisch kundiger Experte, sondern auch als leidenschaftlicher Humanist.
Der Klimawandel wird seit Jahren als der Auslöser einer neuen Migrationswelle ungeahnten Ausmaßes nach Europa gehandelt. Wie sehen Sie diese Bedrohung?
Die meisten Grenzen weltweit sind schwer zu überwinden. Die Weltbank sagte 2021 voraus, dass es bis 2050 aufgrund des Klimawandels 216 Millionen zusätzliche Binnenvertriebene geben könnte. Das wird oft die ärmsten Länder der Welt am härtesten treffen.
Doch auch Katastrophen wie der Sieg der Taliban, die gewaltige Repression im Iran, der lange Krieg im Jemen und zuletzt die Jahrhundertflut in Pakistan führen nicht dazu, dass viele Menschen in Nachbarländer kommen. Es leben fast einhundert Millionen Menschen in extremer Armut in Nigeria, aber nur wenige Tausend erreichen derzeit pro Jahr die EU, um einen Asylantrag zu stellen, heute viel weniger als noch 2016.
Die große Frage für uns ist, wie Staaten an Grenzen agieren, mit oder ohne Respekt der Menschenwürde. Und auch ob es legale Wege für jene gibt, die Schutz brauchen. Die fehlen bei uns.
Wie groß ist die Gefahr, dass die Situation in Europa in Zukunft außer Kontrolle gerät?
Rechtspopulisten beschwören eine Welt aus den Fugen, mit Massen in Bewegung, die nur durch extreme Gewalt gestoppt werden können.
Sie setzen darauf, dass Mehrheiten Kontrollverlust fürchten, und hoffen, von Angst zu profitieren. Tatsächlich finden weltweit heute nur wenige Schutzsuchende Schutz. Dafür ist die Lage an den Außengrenzen der EU dramatisch, es ist seit Jahren die tödlichste Grenze für Migranten weltweit.
Wie könnte denn in Zukunft eine Migrationspolitik mit menschlichem Antlitz für Europa aussehen?
Es geht um weniger irreguläre Migration und um Grenzkontrollen ohne Menschenrechtsverletzungen. Das geht nur durch Kooperation. Herkunfts- oder Transitländer könnten durch Rücknahme irregulär Kommender ab Stichtagen helfen, irreguläre Migration und das Sterben im Mittelmeer zu reduzieren.
Wann wäre Tunesien bereit, jene, die im zentralen Mittelmeer gerettet werden, ab einem Stichtag aufzunehmen, damit dort faire Asylverfahren durchgeführt werden könnten, mit dem Ziel, diese Migration drastisch zu reduzieren? Was müssen EU-Staaten bieten? Kontingente für legale Arbeitsmigration, Studien- und Ausbildungsplätze, Bürgschaften für Investitionen in Projekte erneuerbarer Energie. Europa hat einen wachsenden Bedarf an regulärer Migration.
Dazu sollte Europa wie Kanada Menschen, die vor Krieg oder Verfolgung flüchten, vermehrt legal aufnehmen, durch funktionierende Umsiedlungsprogramme. Ich hoffe, dass es einer Gruppe von Staaten 2023 gelingen wird, zu beweisen, wie das funktionieren kann.
EU-Asylrecht
Es gibt zwar ein gemeinsames Europäisches Asylsystem, das aber beschränkt sich auf grundlegende Regelungen wie etwa Mindeststandards für die Durchführung von Asylverfahren und die Versorgung von Asylsuchenden. In der Praxis betreiben die einzelnen EU-Staaten Asylpolitik nach eigenen, nationalen Gesetzen und eigenem politischen Gutdünken. Solidarität bei der Übernahme von Flüchtlingen findet in der Praxis nicht statt
Zuwanderung
Auch die legale Einwanderung, also etwa auf der Suche nach Arbeit, wird von den EU-Staaten ganz unterschiedlich gehandhabt. Österreich hat besonders strenge Beschränkungen für Zuwanderer. Die ist nur für gut qualifizierte und gut bezahlte Schlüssel-Arbeitskräfte möglich
Gibt es dafür schon heute konkrete Ansätze?
Der deutsche Koalitionsvertrag fordert „praxistaugliche Migrationsabkommen“ durch Koalitionen von interessierten Staaten. Dafür wurde eben erst ein Sonderbevollmächtigter ernannt. Ich bemerkte jüngst auch in Den Haag, Stockholm und Nikosia wachsendes Interesse an solchen Abkommen.
Eine Inspiration dafür ist ein Programm Deutschlands mit dem Westbalkan seit 2016: Wer von dort einen Arbeitsvertrag in Deutschland bekommt, der darf kommen, bis zu 25.000 Menschen im Jahr. Die Beschäftigungsquoten, gerade auch bei Frauen, sind in den Westbalkan-Staaten niedrig, daher profitieren davon beide Seiten.
Ähnliches sollte eine Gruppe von EU-Staaten auch Tunesien, Bangladesch oder der Türkei anbieten. Zum Flüchtlingsschutz: Wenn alle Demokratien in Europa jedes Jahr so vielen Menschen Asyl gewähren würden, wie es Österreich in den Jahren 2018–2021 tat, dann wären das 800.000, eine Revolution im globalen System.
Mit Kanada und den USA würden so eine Million Menschen jährlich Schutz finden, ohne ein Land zu überfordern. Das ist eine realistische Utopie für die nahe Zukunft. Es geht darum, legale Mobilität besser zu organisieren und gleichzeitig das Sterben und die Gewalt und Pushbacks an den Außengrenzen der EU zu beenden.
Und es geht darum, in Demokratien Mehrheiten zu überzeugen: Empathie, Menschenrechte und Kontrolle schließen einander nicht aus.
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