Brexit-Stillstand: Kein Vor und kein Zurück
Abgeordnete im Unterhaus brüllen spätnachts „Schande“ in den Saal, andere versuchen den abgehenden Sprecher John Bercow an den Beinen festzuhalten, die Labour-Opposition stimmt Revolutionslieder an: Großbritanniens Demokratie durfte sich am Montag noch einmal von ihrer seltsamsten Seite zeigen. Jetzt aber ist Pause: Fünf Wochen hat Premierminister Boris Johnson das Parlament in Zwangsurlaub geschickt. Was kommt danach – und wann kommt der Brexit?
Der KURIER gibt Antworten auf die wichtigsten Fragen inmitten des politischen Chaos.
Kommen Neuwahlen in Großbritannien?
Nicht vor Mitte November.
Durch die Zwangspause für das Unterhaus, die fünf Wochen dauert, wäre das der ehestmögliche Zeitpunkt. Jedoch ist noch vollkommen unklar, ob die erforderlichen zwei Drittel der Abgeordneten dafür stimmen würden. Als Boris Johnson in der Nacht auf Dienstag zum zweiten Mal über seinen Neuwahlantrag abstimmen ließ, unterstützten ihn nur 293 Abgeordnete – 434 Stimmen wären aber notwendig gewesen.
Vor dem Ablauf der aktuellen Brexit-Frist wird es also mit Sicherheit keine Neuwahlen geben, was Boris Johnson weiterhin ohne Mehrheit im Parlament dastehen lässt. Dann aber sind Neuwahlen wahrscheinlich.
Wie sind die aktuellen Umfragewerte der Parteien?
Im Falle einer Wahl wäre Johnson der Sieg gewiss, jedoch nicht die parlamentarische Mehrheit: 31 Prozent der Briten würden einer Umfrage der britischen Sun zufolge die Tories wählen, drei Prozentpunkte dahinter lauert bereits die Labour-Partei. Jedoch konstatiert eine Umfrage der Sunday Times den Konservativen derzeit 35 Prozent, während sie Labour auf 21 Prozent sieht.
Fakt ist, dass die Tories trotzdem weit von einer tatsächlichen Mehrheit entfernt sind, Labour unter ihrem Chef Jeremy Corbyn derzeit ebenfalls keine Lust auf einen Urnengang hat. Mehr als die Hälfte aller Briten hätte lieber einen Brexit ohne Abkommen mit der EU, als Corbyn als Premier.
Wird es nun zum harten Brexit kommen?
Am Montag trat durch die Unterschrift der Queen ein Gesetz in Kraft, das einen Austritt ohne Abkommen mit Brüssel verbietet – damit ist Johnson rein rechtlich dazu verpflichtet, Brüssel um einen Aufschub des Brexit zu bitten, sollte es bis 19. Oktober kein Abkommen zwischen dem Vereinten Königreich und der EU geben. Nach derzeitigem Stand müsste Großbritannien am 31. Oktober aus der EU austreten.
Wie kann Boris Johnson die Verschiebung des Brexit verhindern?
Johnson ist über dieses Gesetz naturgemäß nicht erfreut, schimpft es „Kapitulationsgesetz“ und würde lieber „tot im Graben liegen“, als Brüssel um einen weiteren Aufschub zu bitten. Ob und wie er das machen kann – darüber geistern einige Theorien herum: Johnson könnte zum Beispiel doch noch ein Abkommen mit Brüssel erwirken, was jedoch sehr unwahrscheinlich ist.
Er könnte auch zum Aufschubsbrief an Brüssel ein weiteres Schreiben senden, in dem er klar macht, dass die Regierung kein Interesse an einem weiteren Aufschub habe.
Eine mögliche Strategie wäre auch, das Gesetz gegen den No-Deal-Brexit einfach zu ignorieren. Das aber könnte den Premier nach Ansicht britischer Rechtsexperten sogar ins Gefängnis bringen. Auch der Plan, ein anderes EU-Land anzustiften, den Aufschub des Austritts zu blockieren, kursiert in Regierungskreisen.
Was wird die EU tun?
Die EU signalisiert derzeit, dass sie an dem mit Theresa May ausgehandelten Austrittsabkommen festhält. Rückt allerdings ein harter Brexit näher, der etwa Irland massiv treffen würde, könnte man in Detailfragen noch einlenken, etwa beim Backstop, der ja vor allem Irland und Nordirland betrifft
Warum ist Irland das größte Problem?
Die Republik Irland ist wirtschaftlich engstens mit Großbritannien verknüpft, etwa 15 Prozent ihrer Exporte gehen dorthin. Umgekehrt schickt das britische Nordirland ein Drittel seiner Exporte nach Irland. Viele Produkte werden grenzüberschreitend produziert.
Ein harter Brexit und damit Grenzkontrollen und Zollschranken würden beide Länder schwer treffen. Die Wiederrichtung der weitgehend verschwundenen Grenze würde auch den Konflikt in Nordirland neu anheizen. Schon jetzt kommt es vereinzelt wieder zu politischer motivierter Gewalt.
Wann kommt der Austritt aus der EU und ist er noch zu verhindern?
Dass der Brexit tatsächlich Ende Oktober, also wie derzeit offiziell geplant, kommt, wird immer unwahrscheinlicher. Widerstand gegen eine Verlängerung leistet derzeit vor allem Frankreich, aber auch in Paris dürfte man früher oder später einwilligen. Mehr als drei weitere Monate Aufschub wird es allerdings kaum geben. Ob das für eine vernünftige Lösung mit London reicht, ist mehr als zweifelhaft.
Den Brexit noch zu stoppen, wie die überzeugten Pro-Europäer in Großbritannien und in Europa hoffen, wird kaum gelingen. Die politische Mehrheit für ein zweites Brexit-Referendum ist weiterhin nicht in Sicht.
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