Bosnien: "Die politische Klasse ist ein Meister der Selbstblockade"
Seit Ende des Bosnienkrieges 1995 steht, gemäß dem Dayton-Abkommen, der Hohe Repräsentant an der Spitze Bosnien-Herzegowinas – ein Friedensgarant, so die einen; Neo-Kolonialismus, meinen die anderen. Aktuell besetzt Christian Schmidt (CSU) das Amt. Er gilt als einer der umstrittensten Amtsinhaber.
KURIER: Herr Schmidt, wann tritt Bosnien-Herzegowina der EU bei?
Christian Schmidt: Ich hoffe sehr, dass Bosnien-Herzegowina im Dezember den Kandidatenstatus erhält. Wir brauchen ein Signal für die Menschen hier, vor allem für die jungen. Die Frage, die sie sich stellen, lautet: Kommt die EU zu mir – oder komme ich in die EU? Derzeit wird sie mit Letzterem beantwortet. Diese Abwanderung ist dramatisch und ein strukturelles Risiko für das Land.
Würde dieses "Signal" wirklich etwas am Status quo ändern?
Es wäre eine Art Abzeichen am Revers, das braucht Bosnien-Herzegowina. Auch weil die Ukraine den Status schon bekommen hat. Politisch sind wir viel weiter, die EU hat mit dem Land seit 2007 ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen. Bosnien-Herzegowina ist Teil von Erasmus plus, der Zugang zu europäischer Integration ist leichter. Bei der Ukraine sind diese Fragen offen.
Warum hat Bosnien-Herzegowina den Status dann nicht schon längst?
Eine Zeit lang lag es sicher an einer gewissen politischen Interesselosigkeit seitens der EU. Das war von 2008 bis 2018, ein Jahrzehnt des politischen Rückschritts hier. Es knallte nicht mehr in Bosnien, daraus hat man geschlossen, das Land sei auf einem guten Weg. Die Hohen Repräsentanten haben sich mit ihren "Bonn Powers" (Vollmachten, Anm.) zurückgehalten, man überlegte ein Ende der militärischen Präsenz hier. Dieses Missverständnis hat dazu geführt, dass sich die Strukturen nationalistischer Parteien verfestigt haben. Die hatten aber nicht das Gemeinwohl im Auge, sondern ihre Machtzementierung. Die Folge: Korruption, Nepotismus, Abhängigkeiten. Man muss das Stück für Stück auflösen.
Und wie?
Es braucht Maßnahmen, damit der Rechtsstaat funktioniert. Wir arbeiten an der Verbesserung der Staatsanwaltschaft, an einem Gesetz über die Richterernennung, haben die Antikorruptionsbehörde nach Jahren wieder eröffnet. Es ist in erster Linie nicht die ökonomische Situation, die die Menschen abwandern lässt, sondern der Verdruss über die rechtsstaatliche. Wenn sich die verbessert, bin ich überzeugt, dass die Jungen, die zum Studium weggehen, wieder zurückkommen.
Sie nutzen Ihre "Bonn Powers" sehr aktiv. Das sorgt für Kritik.
Wenn die Kritik von außerhalb kommt, setze ich mich gern damit auseinander. Aber für kritische Stimmen von hier habe ich wenig Verständnis. Das Land hätte es ja selbst in der Hand, etwas zu ändern! Ich habe keine Macht über die Verfassung, die kann nur das Parlament ändern. Das bringt aber nichts zustande. Die politische Klasse ist ein Meister der Selbstblockade.
Der Hohe Repräsentant wurde immer als temporäres Amt gesehen, als Wegbereiter in die Eigenständigkeit im europäischen Rahmen. Es kann nicht sein, dass dieses Amt noch weitere 30 Jahre lang besteht. Ich versuche, es redlich und mit Prinzipien auszuführen, manchmal ein wenig deutsch, vielleicht auch zu deutsch. Manchmal ist es sehr schwierig, und manchmal muss ich meinem Ärger Luft machen.
Christian Schmidt (65) saß drei Jahrzehnte im Bundestag. Er war Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, später wurde er Landwirtschaftsminister. 2017 stimmte er für eine Zulassungsverlängerung des Pflanzengifts Glyphosat durch die EU – entgegen der Weisung der Bundesregierung. Seit August 2021 ist er Hoher Repräsentant Bosnien-Herzegowinas.
Im Sommer wütete er im TV, er habe "die Schnauze voll von den politischen Spielchen" in Bosnien-Herzegowina. Der Ausraster ging viral.
Schmidt ist als Hoher Repräsentant mit gewissen Vollmächten ausgestattet, kann gewählte Politiker entlassen, Gesetze ändern, und tat dies etwa mitten in der letzten Wahlnacht. Das sorgte für Kritik.
Sie meinen Ihren Ausraster im Sommer, "ich habe die Nase voll"?
Ja. Und wissen Sie was? Hier in Sarajewo war mir deswegen niemand böse, im Gegenteil. Die Leute wollten Fotos und meinten: "Großartig, endlich sagt das mal einer." Das zeigt, wie groß die Kluft zwischen der politischen Klasse und den Menschen ist.
Was ist mit der Zivilgesellschaft? Hat die keine Macht in Bosnien?
Man würde eigentlich erwarten, dass die Unzufriedenheit die Leute dazu bringt, Bürgerinitiativen zu starten, auf die Straße zu gehen. Das geschieht aber nicht. Einerseits, weil die Zivilgesellschaft noch zu klein dafür ist. Wenn man die Bevölkerung dann noch ethnisch trennt, bleibt kaum eine kritische Masse übrig, die nicht im öffentlichen Sektor tätig ist und von den nationalistischen Parteien abhängig ist. Der öffentliche Sektor hier ist enorm. Irgendwo hat jeder einen Verwandten oder Bekannten, der im System verwickelt ist. Andererseits herrscht eine falsche Erwartungshaltung an mich. Nämlich die, dass der Hohe Repräsentant es schon richten wird, wenn die Regierung nicht vorankommt.
Wer kann den Status quo dann ändern, wenn weder Sie noch die Politiker oder die Zivilgesellschaft?
Die EU hat da eine große Verantwortung. Aber sie ist kein Heilsbringer. Die EU versteht, so wie viele außerhalb des Landes, manchmal zum Teil selbst nicht, was hier eigentlich notwendig ist. Je weiter weg man ist – und Brüssel ist schon ziemlich weit weg – desto weniger sind diese Besonderheiten hier zu verstehen. Ich muss zugeben, auch ich habe eine Zeit dafür gebraucht, denke aber, dass ich es ganz gut hinbekommen habe.
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