Bolsonaro oder die Generäle - wer in Brasilien die Macht hat
„Schließt den Kongress!“ „Schließt den Obersten Gerichtshof!“ „Militärintervention!“ Das forderten jüngst einige Hundert Demonstranten in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia. Und sie erhielten für ihren De-facto-Aufruf zum Putsch anfeuernde Worte von der Staatsspitze: Präsident Jair Bolsonaro selbst, der gegen die in der Corona-Krise von Bundesstaaten-Gouverneuren verhängten Lockdown-Maßnahmen wettert, machte seine Aufwartung.
"Rubikon überschritten"
Der 65-Jährige habe damit „den Rubikon überschritten“, schrieb der Vorsitzende der Anwaltskammer, Felipe Santa Cruz, „die brasilianische Demokratie steht auf dem Spiel“.
Droht dem Koloss auf dem südamerikanischen Kontinent mit seinen 210 Millionen Einwohnern ein Rückfall in die Zeiten der Militärdiktatur (1964-1985)? Nein, zumindest nicht „offiziell“, meint die Brasilien-Expertin Ursula Prutsch, die zuletzt im Februar im Land am Zuckerhut war, zum KURIER. Ein Putsch sei gar nicht nötig, „denn im Hintergrund halten die Generäle die Zügel jetzt schon fest in der Hand“.
Acht von 22 Ministern seien Militärs, eine höhere Quote als zu bestimmten Perioden der bleiernen Jahrzehnte der Diktatur, so die österreichische Historikerin, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrt. Damit hätten die Streitkräfte so viel Macht wie noch nie seit Wiedereinführung der Demokratie in Brasilien.
Zwei Beispiele: General Augusto Heleno, Chef des Kabinetts für institutionelle Sicherheit, dachte kürzlich darüber nach, die Anhänger Bolsonaros (dieser ist selbst Hauptmann der Reserve) gegen das Parlament auf die Straße zu schicken. Und seit Februar dirigiert Ex-Generalstabschef Walter Souza Braga Netto das Kabinett des Präsidenten – der ausgewiesene Hardliner gilt als eigentlich starker Mann in Brasilia.
"Er ist ihnen entglitten"
„Die Militärs hatten früh die populäre Kraft Bolsonaros erkannt und ihn für ihre Zwecke vorgeschoben“, analysiert die Lateinamerika-Spezialistin, „doch er ist ihnen entglitten, in der Corona-Krise zunehmend peinlich“.
Sogar Vize-Staatschef Hamilton Mourão, ebenfalls ein Ex-General, äußert sich zu Maßnahmen zur Eindämmung des Virus viel vorsichtiger als sein Boss – in Brasilien sind an die 45.000 Menschen infiziert und rund 2.800 gestorben.
Selbst einstige Weggefährten Bolsonaros wenden sich wegen dessen Corona-Politik – einst hatte er in Bezug auf Covid-19 von einem „Grippchen“ gesprochen – von ihm ab: Die Gouverneure von Rio de Janeiro und São Paulo setzen auf „social distancing“ und Ausgehsperren.
„Narzisstisch, irrational“
Für Bolsonaro, den Prutsch als „narzisstisch, selbstüberschätzend, irrational und intellektuell sehr unterkomplex“ beschreibt, ist das alles Humbug. Er horcht weiter auf seine Einflüsterer, die teils krude Ansätze verfolgen. So meint Edir Macedo, Pastor der einflussreichsten evangelikalen Kirche Brasiliens, Covid-19 sei eine Strategie des Satans. Glaube sei die beste Medizin gegen die Krankheit.
Und der Präsident ermöglicht diesen Glauben: Nachdem Bundesstaaten Gottesdienste wegen der Pandemie verboten hatten, hob Bolsonaro diese Verordnungen mit einem Dekret wieder auf. Sein Zugang: Das bringe nichts, 70 Prozent der Brasilianer würden sich ohnehin anstecken.
„Speziell Evangelikale haben den früheren Kongress-Hinterbänkler ins höchste Staatsamt gehoben – sie machen 30 Prozent der Bevölkerung aus und sind ein wichtiges Wählersegment, das weiterhin stramm hinter Bolsonaro steht“, analysiert die Historikerin. Neben den religiösen Fundamentalisten und den Militärs könne sich der Präsident noch auf die Großunternehmer, das Agro-Business sowie die Waffenlobby stützen – und auf die weiße Mittelschicht.
Überlebenskampf in den Favelas
Doch sollte diese durch die – auch, aber nicht nur – Corona-bedingte Wirtschaftskrise an Einkommen und Wohlstand verlieren, könnte sie sich rasch vom aktuellen Präsidenten abwenden. Auch ärmere Bevölkerungsschichten in den Elendsvierteln (Favelas), denen Bolsonaro mehr Sicherheit versprochen hatte, könnten ihn in ihrem Überlebenskampf fallen lassen.
Miese Umfragewerte für Bolsonaro
In Umfragen jedenfalls sieht es für das Staatsoberhaupt nicht gut aus. Gerade einmal 30 Prozent sind mit seiner Corona-Politik zufrieden. Ursula Prutsch dazu: „Covid-19 entlarvt die ganze Unfähigkeit des Präsidenten.“
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