Militärexperte: "Ukraine nach einem Monat militärisch stark geschwächt"

Militärexperte: "Ukraine nach einem Monat militärisch stark geschwächt"
Russische Streitkräfte sollen ukrainische Kontrollpunkte in der Stadt Slawutytsch unter Beschuss genommen haben. US-Präsident Biden ist heute in Polen.

Tag 30 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:

Nach einem Monat Krieg ist die Ukraine aus Sicht der verfügbaren militärischen Kapazitäten zunehmend geschwächt. Den Verteidigern gehen die schweren Waffen aus. Und gerade hier sind auch von westlicher Seite keine Waffenlieferungen zu erwarten. "Wesentliche Elemente der Einsatzführung der ukrainischen Streitkräfte sind bereits schwer getroffen." Diese ernüchternde Bilanz zog Oberst Markus Reisner im Gespräch mit der APA am Freitag.

Den Ukrainern gelinge es zwar immer wieder punktuell, teils spektakuläre Nadelstiche gegen die Russen zu setzen, ohne verfügbare schwere Waffensysteme könne sie aber keine umfangreiche Offensive zur Zurückeroberung von Gebieten durchführen. "Die Ukrainer sind nicht in der Lage die Russen aus dem Land zu werfen. Das kann man im Moment ausschließen. Dazu fehlen ihren Streitkräften bereits wesentliche Angriffsfähigkeiten", so der Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie. So sind auch in den vielen ukrainischen Videos aus den Kampfgebieten nur mehr Bilder von Soldaten mit Panzerabwehr- und Fliegerabwehrlenkwaffen zu sehen, aber keine Angriffe von größeren Panzerverbänden. "Es fehlen ihnen Panzer, geschützter Transportraum, Fliegerabwehr, ballistischer Raketen, Kampfflugzeuge."

"Die russischen Soldaten sind gekommen um zu bleiben"

Die Russen schalten nun durch den Einsatz von Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen bereits täglich gezielt Waffenlager der Ukrainer aus und ein möglicher Nachschub mit schweren Waffen sei schwer durchzuführen. "Panzer, Artillerie und weitreichende Flugabwehrsysteme (z. B. vom Typ S-300) sind so groß, dass man sie nicht versteckt ins Land bringen kann." Die Russen würden zudem rasch versuchen, solche Lieferungen zu unterbinden. Die russischen Soldaten sind gekommen um zu bleiben. Trotz der erstarrten Frontlinie und trotz der Verluste, fließt steter Nachschub aus Russland an die Front.

Für die Ukrainer komme noch das Problem der in den Städten eingeschlossenen Zivilisten dazu. "Trotz des großen Widerstandswillens wird die Situation für die eingeschlossene Bevölkerung immer verheerender. In den belagerten Städten bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an. Das ergibt einen zusätzlichen Druck für die Regierung." Das dritte Dilemma sei die "zunehmende Verdrossenheit des Westens". "Die gestrigen Gipfeltreffen in Brüssel haben erste Risse in der Einigkeit Europas gezeigt." Es gebe mit Großbritannien, den Niederlanden, Polen und den Baltischen Staaten eine Gruppe, die ein härteres Vorgehen gegen Russland fordern. Italien, Deutschland und Frankreich seien zurückhaltender, zu diesem Block gehöre auch Österreich. Die Frage nach der zukünftigen Rohstoffversorgung der eigenen Bevölkerung lässt die Staaten auseinanderdriften. Man sucht "smarte" Alternativen und zeigt demonstrativ Einigkeit.

"Das ist das Problem des Abnützungskrieges: Die ukrainische Regierung muss den Kampfeswillen aufrecht erhalten während der Verdrossenheit steigt und die Unterstützung schwindet", so Reisner. Die große Gefahr bestehe nun darin, dass beide Seiten versuchen könnten, durch ein besonderes Ereignis eine Entscheidung herbeizuführen. Das könnte auf russischer Seite etwa der Einsatz von chemischen Waffen sein, davor warnt der Westen seit mehreren Tagen. Von den eingesetzten russischen Kommandeuren haben viele in Syrien gedient. Diese, dort von den Assad-Truppen angewandte Taktik ist ihnen nicht fremd."

Kein Blitzkrieg, sondern ein Abnützungskrieg

Feststehe nach einem Montag Kampf jedenfalls, dass es kein schneller Blitzkrieg, sondern bereits ein Abnützungskrieg sei, "der solange geführt werden wird, bis es zu Verhandlungen kommt". "Es ist eine Art 'Syrianisierung' eingetreten." Die russische Seite müsse nach einem Monat mit Ernüchterung feststellen, dass der kurze Feldzug nicht funktioniert habe, sie in umfangreiche Kämpfe verwickelt sei und empfindliche Verluste erlitten habe. "Aber sie haben einiges erreicht und vor allem im Süden große Geländegewinne gemacht." Die Hafenstadt Mariupol sei praktisch in den Händen der Russen. Die letzten zwei Videobotschaften des ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj seien im Bunker aufgenommen worden. Das bedeute, dass die Situation in der Hauptstadt Kiew so gefährlich geworden sei - unter anderem durch den laufenden Einsatz von russischen Drohen - dass er kaum noch ins Freie gehen könne.

Wie viele Menschen schon gestorben sind, wisse man nicht. Experten gehen davon aus, dass zehntausende Soldaten und tausende Zivilisten bereits Opfer des Krieges geworden seien. Dass der Angreifer dabei höhere Verluste hat, sei in der militärischen Norm. Theoretisch brauche es auf einen Verteidiger drei bis vier Angreifer, so Reisner. Die Ukrainer versuchen nun jeden Meter Boden erbittert zu verteidigen. Wo möglich, sollen den Russen schwerste Verluste beigebracht werden. In der Hoffnung, dass sie Einlenken und das Land verlassen. "Der Gewinner wird der sein, der nun den längeren Atem hat. Und dies bedeutet weitere tausende Tote, Verletzte und Vertriebene. Der Schrecken des Krieges ist wieder in Europa angekommen. Und auch er ist gekommen um zu bleiben", stellt der Militärexperte fest.

Treibstofflager unweit von Kiew zerstört

Russlands Armee hat eigenen Angaben zufolge eines der größten ukrainischen Treibstofflager unweit von Kiew zerstört. Das Lager im Ort Kalyniwka sei am Donnerstagabend mit Kalibr-Marschflugkörpern beschossen worden, sagte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Freitagvormittag. Von Kalyniwka aus seien die ukrainischen Streitkräfte in zentralen Landesteilen mit Treibstoff versorgt worden, sagte Konaschenkow. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. Von ukrainischer Seite gab es zunächst keine Bestätigung.

Russische Flugzeuge und Hubschrauber hätten in der vergangenen Nacht insgesamt 51 ukrainische Militärobjekte attackiert, hieß es aus Moskau. Russland betont immer wieder, im seit rund einen Monat andauernden Krieg im Nachbarland ausschließlich Einrichtungen von Militär und Geheimdienst anzugreifen. Die Ukraine beschuldigt die russischen Truppen hingegen täglich, gezielt auch auf Zivilisten zu schießen.

Beschuss nahe Tschernobyl

Nach mehreren Flächenbränden rund um die Atomruine Tschernobyl führt nun möglicher Beschuss in der Nähe zu erneuten Sorgen um die Sicherheit der Anlage. Russische Streitkräfte hätten ukrainische Kontrollpunkte in der Stadt Slawutytsch unter Beschuss genommen, teilte der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, in der Nacht auf Freitag mit.

Dies gefährde laut Kiew "die Häuser und Familien des Betriebspersonals, das die nukleare und radioaktive Sicherheit" des ehemaligen AKW gewährleiste sowie weitere Rotationen der Angestellten. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig bestätigen.

In der Kleinstadt Slawutytsch mit rund 25.000 Einwohnern, die sich außerhalb der Sperrzone befindet, leben viele Menschen, die im nahe gelegenen ehemaligen Kernkraftwerk Tschernobyl arbeiten.

Neue Offensive bei Isjum geplant

Im Nordosten der Ukraine sollen sich indes nach Angaben der ukrainischen Streitkräfte russische Truppen nach hohen Verlusten teils zurückgezogen haben. Das teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht in der Nacht auf Freitag mit. Demnach beobachte man den Rückzug bestimmter russischer Einheiten hinter die russische Grenze nach dem Verlust von mehr als der Hälfte des Personals.

In den Gebieten würden russische Einheiten weiter die zweitgrößte Stadt Charkiw und die Großstadt Sumy blockieren. Bei Isjum im Gebiet Charkiw bereiteten sich russische Truppen auf eine neue Offensive vor. Moskau gelinge es teilweise, die Landverbindung zwischen dem russischen Gebiet Rostow an der ukrainischen Grenze und der von Russland annektierten Halbinsel Krim zu halten.

Bleiben Sie mit unserem Live-Ticker zum Krieg in der Ukraine auf dem aktuellsten Stand:

300.000 ukrainische Haushalte ohne Gas und Wärme

Rund 300.000 Haushalte in der Ukraine müssen nach Angaben des größten Energieversorgers im Land derzeit ohne Gas und Wärme auskommen. "Wir sichern eine relativ stabile Gasversorgung in großen Teilen des Landes - aber mit Ausnahmen wie im belagerten Mariupol oder Charkiw", sagte der Vorstandsvorsitzende von Naftogaz, Jurij Witrenko, Zeit Online. Es sei unmöglich, in Mariupol noch etwas zu reparieren.

Von insgesamt rund 30 Millionen Haushalten seien 300.000 von der Versorgung mit Gas und Wärme abgeschnitten. Witrenko forderte, dass der Westen seine Zahlungen für russisches Gas und Öl auf ein Treuhandkonto überweist und die Gelder nur freigibt, wenn Russland sich aus der Ukraine zurückzieht.

Ukraine startet Angriffe in besetzten Gebieten

Nach Ansicht britischer Geheimdienste haben die ukrainischen Streitkräfte damit begonnen, hochwertige Ziele in von Russland gehaltenen Gebieten anzugreifen. Darunter seien etwa ein Landungsschiff oder ein Munitionslager in der Stadt Berdjansk, heißt es in einem Update des britischen Verteidigungsministeriums unter Berufung auf Geheimdienstinformationen, das am späten Donnerstagabend veröffentlicht wurde.

Der ukrainische Generalstab hatte in der Nacht auf Freitag mitgeteilt, bei einem Angriff auf den von russischen Einheiten eingenommenen Hafen der Stadt Berdjansk das Landungsschiff "Saratow" zerstört zu haben. Zwei weitere derartige Schiffe, "Caesar Kunikow" und "Novotscherkassk", seien beschädigt worden. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.

Es sei wahrscheinlich, dass die ukrainischen Streitkräfte weiterhin auf logistische Vermögenswerte in von Russland kontrollierten Gebieten abzielten, hieß es in dem britischen Bericht weiter. Dies werde das russische Militär dazu zwingen, der Verteidigung seiner Versorgungskette Vorrang einzuräumen, und ihm die dringend benötigte Nachschubversorgung für Streitkräfte vorzuenthalten. Das werde die Fähigkeit russischer Truppen zur Durchführung von Offensivoperationen schmälern und der ohnehin schon schwindenden Moral weiter schaden.

Situation in Kiev amid Russian invasion

Eine Patrouille ukrainischer Soldaten in Kiew.

Separatisten melden Beschuss durch ukrainische Armee

Die ukrainische Armee soll nach Angaben von Vertretern der Separatisten die Kleinstadt Solote im Gebiet Luhansk mit Artillerie beschossen haben. Dabei sei ein Wohnhaus beschädigt und ein Schuppen zerstört worden, teilte ein Vertreter der "Volksrepublik" Luhansk am Freitagmorgen auf Telegram mit.  Vier Granaten des Kalibers 122mm seien auf das Haus abgefeuert worden. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.
 

Biden reist nach Polen

Es ist ein Besuch, von dem sich Polen viel erhofft. Nach einem Gipfelmarathon in Brüssel reist US-Präsident Joe Biden an diesem Freitag weiter nach Polen. Das Land hat eine mehr als 500 Kilometer lange Grenze zur Ukraine sowie eine Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad. Der NATO-Mitgliedsstaat fühlt sich von Russland bedroht - der Krieg in der Ukraine ist nicht weit weg. In Warschau herrscht parteiübergreifend die Überzeugung, dass man sich nur auf die USA als wahren Verbündeten verlassen kann. Das macht es einerseits leicht für Biden - er hat die Sympathien auf seiner Seite. Allerdings können zu hohe Erwartungen auch allzu leicht enttäuscht werden.

In der Nacht auf Freitag erklärte das Weiße Haus, Biden werde sich am Flughafen der Stadt Rzeszów im Südosten Polens - nur rund 90 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt - zunächst über den humanitären Einsatz zur Versorgung der Flüchtlinge unterrichten lassen. Im Anschluss will er dort stationierte US-Soldaten treffen. Am Samstag führt er in Warschau Gespräche mit Präsident Andrzej Duda und will eine wichtige Rede halten. Bidens Besuch dürfte symbolisch jedenfalls von großer Bedeutung sein - der Anführer des Westens reist an die Ostflanke.

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