Berlin-Anschlag: Anis Amri wollte offenbar nach Rom

Anis Amri
Der mutmaßliche Berlin-Attentäter hatte in der italienischen Hauptstadt die meisten Kontakte.

Der mutmaßliche Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt wollte italienischen Medienberichten zufolge ursprünglich nach Rom, bevor ihn die Polizei bei Mailand erschoss. Die Zeitung Corriere della Sera berichtete am Freitag, Überwachungskameras auf dem Turiner Bahnhof hätten den aus Frankreich eingetroffenen Amri zweimal dabei gefilmt, wie er Anschlusszüge nach Rom oder Mailand suchte.

Schließlich habe er sich für einen Regionalzug in die Lombardei entschieden, "weil zu so später Stunde kein Zug mehr in die Hauptstadt fuhr". In einigen Zeitungen hieß es, als der 24-Jährige am 23. Dezember gegen 02.00 Uhr in Mailand ankam, habe er einen jungen Salvadorianer gefragt, wo er in einen Zug oder Bus "nach Rom, Neapel oder in den Süden" einsteigen könne. Von der im Norden Mailands gelegenen Stadt Sesto San Giovanni, wo Amri wenig später bei einer Polizeikontrolle erschossen wurde, fahren Busse nach Süditalien, Spanien, Marokko und Albanien ab.

Berlin-Anschlag: Anis Amri wollte offenbar nach Rom
The body of Anis Amri, the suspect in the Berlin Christmas market truck attack, is seen covered with a thermal blanket next to Italian officers in a suburb of the northern Italian city of Milan, Italy December 23, 2016. REUTERS/Stringer FOR EDITORIAL USE ONLY. NO RESALES. NO ARCHIVES

"Kein Zufall"

Die römische Zeitung Il Messaggero hält es für "keinen Zufall", dass Amri in die Hauptstadt wollte. In der Region Latium um Rom habe Amri "wahrscheinlich die engsten Kontakte" gehabt. Der junge Tunesier habe mehrere Wochen in Aprilia südöstlich von Rom bei einem Landsmann verbracht, den er auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa kennengelernt habe und der derzeit inhaftiert sei. Der Polizei zufolge wurden diese Woche in der ländlichen Gegend Aprilia zwei Wohnungen durchsucht, in denen sich Amri vor einem Jahr aufgehalten haben soll.

2011 auf Lampedusa eingetroffen

Bevor Amri im Juli 2015 nach Deutschland kam, war er 2011 auf der nur 140 Kilometer vor der tunesischen Küste gelegenen Insel Lampedusa eingetroffen. Er kam in ein Auffanglager für Minderjährige in Sizilien. Wegen des Versuchs dort eine Schule anzuzünden, wurde er im Oktober 2011 festgenommen und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. In der Haft kam er möglicherweise mit radikalen Salafisten in Berührung.

Amri soll beim Anschlag mit einem Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche am 19. Dezember zwölf Menschen getötet haben, darunter den polnischen Fahrer des gekaperten Sattelschleppers. Etwa 50 weitere Menschen wurden bei dem Attentat verletzt, viele von ihnen schwer. Amri war den Sicherheitsbehörden bekannt und wurde auch zeitweise überwacht, jedoch nicht mehr zum Tatzeitpunkt.

Polen nimmt Abschied von getötetem Lkw-Fahrer

Berlin-Anschlag: Anis Amri wollte offenbar nach Rom
Mourners stand around the coffin of Lukasz Urban, the Polish truck driver who was killed in the Berlin Christmas market attack, during his funeral in Banie near Sczczecin, Poland, on December 30, 2016. Lukasz Urban was shot dead probably by suspected jihadist killer Anis Amri shortly before the market attack, in which 11 other people were killed and almost 50 injured when the truck tore through the crowd, smashing wooden stalls and crushing victims, in scenes reminiscent of July's deadly attack in the French Riviera city of Nice. / AFP PHOTO / Odd ANDERSEN
Unter starken Sicherheitsvorkehrungen gingen unterdessen am Freitag nahe Stettin (Szczecin) in Polen die Trauerfeiern für den Lastwagenfahrer Lukasz U. über die Bühne. Der 37-Jährige war dem Terroranschlag in Berlin vor Weihnachten zum Opfer gefallen, er hatte ursprünglich den Lkw gefahren, der dann vom mutmaßlichen Attentäter gekidnappt wurde.
Berlin-Anschlag: Anis Amri wollte offenbar nach Rom
Mourners attend the funeral of Lukasz Urban, the Polish truck driver who was killed in the Berlin Christmas market attack, in Banie near Sczczecin, Poland, on December 30, 2016. Lukasz Urban was shot dead probably by suspected jihadist killer Anis Amri shortly before the market attack, in which 11 other people were killed and almost 50 injured when the truck tore through the crowd, smashing wooden stalls and crushing victims, in scenes reminiscent of July's deadly attack in the French Riviera city of Nice. / AFP PHOTO / Odd ANDERSEN
Zu dem Gottesdienst im Ort Banie kamen außer Angehörigen, Freunden und Kollegen auch Staatspräsident Andrzej Duda und die Leiterin der Kanzlei von Regierungschefin Beata Szydlo, Beata Kempa. Anschließend sollte Lukasz U. auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt werden.

Gentiloni traf Familie getöteter Italienerin

Italiens Premier Paolo Gentiloni hat am Freitag die Familie der 31-jährigen Fabrizia Di Lorenzo besucht, die beim Anschlag in Berlin am 19. Dezember ihr Leben verloren hat. Gentiloni besuchte die Familie Di Lorenzo in ihrer Heimatstadt Sulmona in der mittelitalienischen Region Abruzzen.

Gentiloni kondolierte der Familie im Rahmen der Regierung und signalisierte seine Bereitschaft, Stipendien in Andenken an die junge Frau einzurichten. Gentiloni hatte Di Lorenzo, eine ehemalige Erasmus-Studentin mit Vorliebe für die deutsche Kultur, die seit drei Jahren in Berlin lebte und arbeitete, als "Musterbürgerin" bezeichnet. Di Lorenzo zählt zu den zwölf Todesopfern des Anschlags auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin.

Italien will auf starke Vorbeugung setzen

Nach dem Anschlag in Berlin will Italien nun weiterhin auf starke Vorbeugung gegen den fundamentalistischen Terrorismus setzen. Seit Anfang 2015 seien 132 Personen wegen Kontakten zu fundamentalistischen Kreisen ausgewiesen worden, sagte der italienische Innenminister Marco Minniti bei einer Pressekonferenz am Freitag.

Die "Neutralisierung" des mutmaßlichen Attentäters von Berlin, Anis Amri, nahe Mailand bezeuge, dass Italiens Sicherheitssystem gut funktioniere. Minniti bekräftigte, dass Amri den bisherigen Ermittlungen zufolge keine Komplizen in Mailand und Umgebung hatte. "Seitdem er in Italien eingetroffen war, hat er sich allein bewegt", so Minniti. Kein Detail werde bei den Ermittlungen über Amri in Italien unterschätzt.

Berlin-Anschlag: Anis Amri wollte offenbar nach Rom
Berlin mayor Michael Mueller speaks during a commemoration service in the Kaiser Wilhelm Gedaechtniskirche (Kaiser Wilhelm Memorial Church) for the victims of a truck that ploughed on Monday into a crowded Christmas market at Breitscheidplatz, in Berlin, Germany, December 20, 2016. REUTERS/Michael Kappeler/Pool
Als Konsequenz aus dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt wird weiter über einen Ausbau der Videoüberwachung diskutiert. Der regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) sagte imRundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), er "hoffe sehr, dass es Bewegung in dieser Frage gibt". Mit Videoüberwachung könnten Straftaten zwar nicht verhindert, aber sie könnten "deutlich schneller aufgeklärt werden".

Die Union begrüßte den Vorstoß. Der SPD-Politiker nannte als mögliche Orte für die Installation zusätzlicher Kameras unter anderem den Alexanderplatz in Mitte, den Verkehrsknotenpunkt Kottbusser Tor im Stadtteil Kreuzberg und den Breitscheidplatz, wo bei dem Anschlag am 19. Dezember zwölf Menschen getötet worden waren. Videotechnik könne in diesen Fällen dazu beitragen, "dass diese Orte sicherer werden", sagte Müller.

Die neue Berliner Koalition aus SPD, Linkspartei und Grünen hatte in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, auf eine Ausweitung der Videoüberwachung zu verzichten. Über einen Ausbau der Videoüberwachung in Deutschland wird seit dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt allerdings wieder verstärkt diskutiert. Entsprechende Forderungen kamen vor allem aus der Union.

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagte am Freitag imRBB, Kriminalität könne durch Videokameras nicht verhindert werden. Richtig sei aber, "dass die Fahndungen dadurch besser und schneller werden". "Deshalb werden wir darüber diskutieren", fügte Geisel hinzu.

Die Unionsfraktion im Bundestag begrüßte Müllers Vorstoß. Der Regierende Bürgermeister müsse seine neue Position nun auch im rot-rot-grünen Senat durchsetzen, sagte ihr parlamentarischer Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer dem Tagesspiegel vom Samstag. Mehr Videoüberwachung sei "unverzichtbar, um das Sicherheitsgefühl der Bürger zu stärken und die Aufklärung von Straftaten zu verbessern".

Der Berliner Polizeipräsident Klaus Kandt verwies auf Fahndungserfolge bei der Videoüberwachung im öffentlichen Nahverkehr. Kandt sagte am Freitag im RBB, die Polizei habe dadurch Straftäter finden und Straftatenserien stoppen können. Das letzte große Beispiel dafür sei der sogenannte U-Bahntreter, der eine Frau im U-Bahnhof Hermannstraße eine Treppe heruntergetreten hatte und der Kandt zufolge "letztlich auch durch die Videoüberwachung gefasst wurde".

Kandt betonte zugleich, es könne nicht die ganze Stadt überwacht werden. "Wenn man eine Videoüberwachung diskutiert, muss man schon schauen, was sind relevante Plätze, an denen sich viele Menschen aufhalten und wo auch ein gewisses Straftatenaufkommen ist".

Am 19. Dezember hatte mutmaßlich der Tunesier Anis Amri einen Lastwagen in den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gesteuert. Dabei wurden zwölf Menschen getötet und dutzende weitere verletzt. Amri selbst wurde am Freitag vor einer Woche bei einem Schusswechsel mit Polizisten in Mailand erschossen.

Berlin-Anschlag: Anis Amri wollte offenbar nach Rom
Zerstörter Advent-Markt in Berlin
Im Fall des mutmaßlichen Berlin-Attentäters Anis Amri sieht das für Asylanträge zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) keine eigenen Versäumnisse. "Amri ist nicht durch das Raster des Bamf geschlüpft", sagte Behördenchef Frank-Jürgen Weise derBild-Zeitung vom Freitag. "Bis jetzt kann ich keine Fehler des Bamf im Fall Amri erkennen."

Auch Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD) wies Vorwürfe zurück, die Behörden hätten im Fall Amri versagt. "Vorwürfe mache ich mir daher nicht, aber der Anschlag macht mich sehr betroffen", sagte der Bamf-Chef. "Der Fall Amri ist Anlass, einige Prozesse auch in unserem Hause nochmals genau zu überprüfen." Eine abschließende Bewertung könne aber erst vorgenommen werden, wenn der Fall vollständig aufgearbeitet sei.

Jäger sagte im ARD-Morgenmagazin, die Behörden in Berlin und Nordrhein-Westfalen seien davon ausgegangen, dass von Amri keine aktuelle Anschlagsgefahr ausgehe. Der Tunesier sei eher im Drogenmilieu verortet worden. Es habe keine Handhabe gegeben, ihn in Haft zu nehmen.

Amri, der zeitweise als Asylbewerber in Nordrhein-Westfalen gemeldet war, war den Sicherheitsbehörden als Gefährder bekannt. Er wurde auch überwacht, allerdings nicht mehr zum Tatzeitpunkt. Der Tunesier hatte im Frühjahr 2016 einen Asylantrag in Deutschland gestellt, der bereits kurze Zeit später abgelehnt wurde.

Bamf-Chef Weise verwies darauf, dass es "im europäischen Asylregister Eurodac keinen Treffer zu Amri" gab. Seine Behörde "konnte also nicht wissen, ob er einen Antrag stellte und dieser in Italien abgelehnt worden war". Aber selbst wenn das Bamf es gewusst hätte, "hätte Amri hier einen Asylantrag stellen können - den hätten wir dann ebenfalls abgelehnt".

Kritik übt Weise an den europäischen Partnerländern: "Das Eurodac-System funktioniert nur so gut, wie es auch mit Daten befüllt wird." Hier seien alle Länder in der Pflicht, gründlich zu arbeiten.

Amri soll beim Anschlag mit einem Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche am 19. Dezember zwölf Menschen getötet haben. Etwa 50 weitere Menschen wurden bei dem Attentat verletzt, viele von ihnen schwer.

Berlin-Anschlag: Anis Amri wollte offenbar nach Rom
Rescue workers tow the truck which ploughed into a crowded Christmas market in the German capital last night in Berlin, Germany, December 20, 2016.. REUTERS/Fabrizio Bensch
Der SPD-Innenexperte Burkhard Lischka sagte derMitteldeutschen Zeitungaus Halle: "Die Risikobewertung Amris hat sich als Fehleinschätzung herausgestellt." Gleichwohl nahm der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion die Sicherheitsbehörden in Schutz. Solche Fehleinschätzungen werde es noch häufiger geben, schließlich seien 550 Gefährder bekannt, von denen sich schätzungsweise 200 in Deutschland aufhielten.

Die stellvertretende CSU-Vorsitzende Angelika Niebler forderte eine deutliche Ausweitung der Abschiebehaft. "Wir brauchen einen neuen Haftgrund für Gefährder und die Verlängerung des Ausreisegewahrsams von derzeit vier Tagen auf wenigstens vier Wochen", sagte Niebler der Zeitung Die Welt aus Berlin. Es könne nicht sein, dass straffällig gewordene Gefährder, deren Asylantrag abgelehnt worden sei, sich frei in Deutschland aufhalten oder in Europa bewegen könnten.

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