Russland setzt Angriffe trotz hoher Verluste fort: kein Atomwaffeneinsatz

Russland setzt Angriffe trotz hoher Verluste fort: kein Atomwaffeneinsatz
Russland möchte die letzte Bastion des Widerstandes in Mariupol einnehmen. Auf Atomwaffen will Russland im Ukraine-Krieg verzichten.

Tag 71 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:

Russische Truppen haben nach Angaben des britischen Militärgeheimdienstes ihren Bodenangriff auf das Asow-Stahlwerk in Mariupol fortgesetzt. Russland nimmt dabei, nach Ansicht britischer Geheimdienstexperten, offenbar hohe Verluste in Kauf. 

Russland wolle das Stahlwerk, die letzte Bastion der Verteidiger von Mariupol, wohl für die Siegesfeier am 9. Mai erobern, hieß es in einer Mitteilung des Verteidigungsministeriums. Präsident Wladimir Putin wünsche sich für den Jahrestag des Siegs über Nazi-Deutschland einen symbolischen Erfolg in der Ukraine. Russland müsse das aber mit hohen Verlusten an Soldaten, Material und Munition bezahlen.

"Erfundene atomare Bedrohung"

Russlands Außenministerium hat Spekulationen über einen möglichen Atomwaffeneinsatz in der Ukraine zurückgewiesen. Für einen solchen Einsatz gebe es klare Richtlinien in der russischen Atomdoktrin, betonte Alexej Saizew, ein Sprecher des Ministeriums, am Freitag laut der Nachrichtenagentur Interfax. "Sie sind nicht anwendbar für die Verwirklichung der Ziele, die im Rahmen der militärischen Spezialoperation in der Ukraine, gesetzt wurden", fügte er hinzu. Russland nennt den Krieg in der Ukraine "Spezialoperation." Die russische Atomdoktrin sieht einen Einsatz der Atomwaffen nur bei einer Gefährdung der Existenz des Landes selbst vor.

Saizews Angaben nach hat Russland mehrfach Abkommen vorgeschlagen, die einen Atomkrieg unmöglich machen sollen. Dem Westen warf der Top-Diplomat eine bewusste Eskalation mithilfe der „erfundenen atomaren Bedrohung durch Russland“ vor. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte im Februar, als er den Krieg gegen die Ukraine befahl, den Westen davor gewarnt, sich einzumischen. Anderenfalls hätte das für die betreffenden Länder „Folgen, mit denen sie noch nie konfrontiert“ waren. Gleichzeitig ließ der Kremlchef die eigenen Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen.

Weiters konnte Russland nach eigenen Angaben ein großes Munitionsdepot in Kramatorsk im Osten der Ukraine mit Raketenangriffen zerstören. Zudem sollen zwei ukrainische Kampfflugzeuge, eine Su-25 und eine Mig-29, abgeschossen worden sein.

Russische Truppen verletzen Waffenruhe in Mariupol

Die Behörden in Mariupol werfen den russischen Streitkräften indes vor, eine Waffenruhe für Evakuierungen aus dem belagerten Asow-Stahlwerk verletzt zu haben. Russische Truppen hätten ein Auto beschossen, das an Evakuierungsmaßnahmen beteiligt gewesen sei, hieß es. Dabei sei ein ukrainischer Kämpfer getötet und sechs weitere verletzt worden. Ursprünglich wurde ein weiterer Konvoi der UNO zur Evakuierung von rund 200 Zivilisten aus dem belagerten Stahlwerk erwartet.

"Ein neuer Schritt zur Evakuierung unserer Leute aus (dem Stahlwerk) Asowstal wird derzeit umgesetzt", sagte der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andriy Jermak in der Früh. Informationen über das Ergebnis werde es später geben. Konkret wurde von Vize-Ministerpräsidenten Iryna Wereschtschuk 11.00 Uhr MESZ als Termin für den Evakuierungsversuch angegeben.

Bei zwei vorherigen Evakuierungen unter Vermittlung der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz wurden etwa 500 Menschen aus Mariupol und Umgebung auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet nach Saporischschja geholt. 

Smoke rises above a plant of Azovstal Iron and Steel Works in Mariupol

Selenskij: Bisher über 2.000 russische Raketenangriffe

Die russische Armee hat in ihrem Krieg gegen die Ukraine nach den Worten von Präsident Selenskij bisher 2.014 Raketen gegen diverse Ziele eingesetzt. Das teilte Selenskij in der Nacht zum Freitag in seiner täglichen Videoansprache mit. Darüber hinaus seien seit Beginn der Invasion der russischen Armee in die Ukraine am 24. Februar bereits 2.682 Luftangriffe registriert worden.

Dabei habe auch die medizinische Infrastruktur der Ukraine schwere Verluste erlitten. "Russische Truppen haben bis heute fast 400 Spitäler zerstört oder beschädigt", so Selenskij weiter.

Sanitäter bittet Erdogan um Unterstützung

Ein Sanitäter aus dem Werk Azovstal bittet den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan um Unterstützung. "Beenden Sie diesen Alptraum", bat der Mann, der sich als muslimischer Krim-Tatare mit dem Namen Hassan zu erkennen gab, in einer am Donnerstagabend veröffentlichten Videobotschaft.

"Hier sterben Menschen, die einen durch Kugeln, die anderen vor Hunger, die Verwundeten aus Mangel an Medikamenten, unter schrecklichen Bedingungen." Er bat den türkischen Staatschef um Vermittlung in dem Konflikt, um Überwachung der Evakuierung der Menschen aus dem Werk, auch von ukrainischen Militärs.

Ukrainer halten russische Landungsoperation bei Odessa für möglich

Das ukrainische Militär hält eine russische Landungsoperation an der Schwarzmeerküste in der Umgebung der Hafenstadt Odessa für möglich. Nach einer Mitteilung der regionalen Militärführung werde das Gebiet verstärkt von russischen Aufklärungsdrohnen überflogen, berichtete die Zeitung Ukrajinska Prawda.

Zudem sei die russische Marine vor dem von ukrainischer Seite kontrollierten Küstenabschnitt weiterhin stark präsent.

Ukraine hat Moskwa dank US-Informationen versenkt

Geheimdienstinformationen der USA haben nach Medienberichten dem ukrainischen Militär dabei geholfen, das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte, den Raketenkreuzer „Moskwa“ zu versenken. Die US-Regierung habe aber keine Kenntnis über die Pläne der Ukraine gehabt, berichteten mehrere US-Medien wie die Washington Post oder die New York Times am Donnerstagabend (Ortszeit) unter Berufung auf nicht namentlich genannte Personen, die mit der Angelegenheit vertraut seien.

Die New York Times hatte zuvor schon berichtet, dass sich die ukrainische Armee bei ihrem Widerstand gegen Russland teilweise auf Informationen aus den USA beruft. Die ukrainische Armee nimmt etwa für sich in Anspruch, seit Beginn des russischen Angriffs zwölf russische Generäle durch gezielten Beschuss getötet zu haben. Pentagon-Sprecher John Kirby dementierte diesen Bericht.

Marshall-Plan für die Ukraine

Ungeachtet der massiven finanziellen Unterstützung des Westens für die Ukraine hält Präsident Selenskij an seinen Gedanken über eine Art Marshall-Plan für sein Land nach dem Krieg fest. Die internationale Geberkonferenz in Warschau, die wenige Stunden zuvor etwas über sechs Milliarden Euro Unterstützung für Kiew zusammengebracht hatte, sei "ein Element unseres Schutzes, ein Element des Schutzes für ganz Europa", sagte Selenskij in seiner täglichen Videoansprache. Das Schicksal der Ukraine und Europas entscheide sich "nicht nur auf dem Schlachtfeld", sondern auch im wirtschaftlichen Bereich, beim Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg.

Die in Warschau zugesagten Milliarden seien jedoch "nur ein Teil dessen, was wirklich notwendig ist, um das normale Leben in dem gesamten Gebiet wiederherzustellen, in das Russland den Krieg gebracht hat". "Deshalb brauchen wir ein modernes Analogon des Marshall-Plans für die Ukraine." Mit dem Marshall-Plan, benannt nach dem damaligen US-Außenminister George Marshall, hatten die USA in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg den Wiederaufbau in Westeuropa mit Milliardensummen unterstützt.

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