Trotz Feuerpause Kämpfe um Stahlwerk, Tote nach Raketen im Donbass
Tag 70 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Trotz einer von Russland angekündigten Feuerpause dauern die Kämpfe um das Asowstal-Werk in Mariupol am Donnerstag nach ukrainischen Angaben weiter an. Russland versuche, die letzten verbliebenen ukrainischen Verteidiger auf dem Gelände im Süden der Ukraine zu "vernichten", teilte die ukrainische Armee mit. Der Kreml erklärte hingegen, die Feuerpause werde eingehalten. Durch Beschuss mehrerer Städte im Donbass gab es unterdessen Tote und Verletzte. Ein Überblick über das Kriegsgeschehen am Donnerstag.
Russische Soldaten auf dem Stahlwerk-Gelände
Russische Truppen sind nach Darstellung der Ukraine auf das Gelände des belagerten Asowstal-Stahlwerks in Mariupol vorgedrungen. "Mit Unterstützung der Luftwaffe hat der Gegner seinen Angriff mit dem Ziel erneuert, das Fabrikgelände unter seine Kontrolle zu bringen", teilte der ukrainische Generalstab am Donnerstag mit.
Man stehe weiter in Kontakt mit den Verteidigern, sagt ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij dem Sender Radio Free Europe/Radio Liberty. Der ukrainische Generalstab berichtete am Mittwochabend auch von Luftangriffen auf das Stahlwerk, betonte aber zugleich nach Angaben der Agentur Ukrinform: "Der Feind hat keinen Erfolg."
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte zuvor gesagt, dass die Blockade des Stahlwerks fortgesetzt werde. Präsident Wladimir Putin hatte befohlen, das große Stahlwerksgelände hermetisch abzuriegeln und auf eine Erstürmung zu verzichten. Zuletzt hatte es aber immer wieder Berichte über russische Angriffe auf das Werk gegeben.
Am Wochenende ließ der Aggressor erstmals größere Evakuierungen von Zivilisten aus dem Stahlwerk in Richtung ukrainisch gehaltenes Territorium zu. Beobachter sahen darin ein Zeichen, dass Russland eine Erstürmung des Geländes vorbereiten könnte.
Der Bürgermeister von Mariupol, Wadym Boitschenko, hatte am Mittwoch im Fernsehen mitgeteilt, dass der Kontakt zu den Verteidigern abgerissen sei. Es seien heftige Kämpfe um die letzte Bastion ukrainischer Einheiten in der südostukrainischen Hafenstadt ausgebrochen. Immer noch würden Zivilisten, darunter über 30 Kinder, auf eine Evakuierung aus dem großen Stahlwerksgelände warten.
Moskau hatte erst am Mittwochabend eine dreitägige Feuerpause zur Evakuierung von Zivilisten aus dem Asowstal-Werk in der südukrainischen Hafenstadt angekündigt. Die russischen Streitkräfte wollten demnach am Donnerstag, Freitag und Samstag jeweils von 08.00 bis 18.00 Uhr (07.00 - 17.00 Uhr MESZ) Fluchtkorridore für Zivilisten aus dem Industriekomplex öffnen.
Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte am Donnerstag in Moskau, die Fluchtkorridore "funktionieren". Die russischen Truppen hielten die Feuerpause ein, das Stahlwerk werde jedoch weiterhin belagert.
Selenskij hofft auf Evakuierungsaktionen
Angesichts der zunehmend aussichtslosen Lage von Zivilisten im Asowstal-Werk forderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine sofortige Waffenruhe, um die Menschen nach Wochen der Belagerung evakuieren zu können. "Es wird einige Zeit dauern, die Menschen aus den Kellern und unterirdischen Bunkern zu befreien", so Selenskyj. "Unter den derzeitigen Umständen können wir keine schweren Geräte einsetzen, um den Schutt wegzuräumen, es muss alles von Hand gemacht werden."
Der Präsident berichtete von einem Telefonat mit UN-Generalsekretär António Guterres über die Evakuierungen. Sie finden unter Vermittlung der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz statt.
Tote nach Raketenbeschuss von Städten im Donbass
Nach dem Beschuss ukrainischer Städte im Donbass sind Tote und Verletzte unter der Zivilbevölkerung gemeldet worden. Der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, sprach von fünf Toten durch Beschuss von Sjewjerodonezk, Lyssytschansk, Hirske und Popasna im Donbass.
Nach Angaben des Gouverneurs der Region Donezk wurden bei einem nächtlichen Angriff auf ein Wohnviertel in Kramatorsk 25 Zivilisten verletzt. Die russische Armee teilte ihrerseits mit, sie habe in der Stadt einen ukrainischen Kommandoposten und zwei Militärlager beschossen.
Russische Militärparade in Mariupol am 9. Mai?
Russland soll nach Angaben Kiews am Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai eine Militärparade im weitgehend eroberten Mariupol planen. Der stellvertretende Leiter der Moskauer Präsidialverwaltung, Sergej Kirijenko, sei in Mariupol eingetroffen, um die Feierlichkeiten vorzubereiten, teilte der ukrainische Militärgeheimdienst am Mittwoch mit. Mariupol solle nach den Plänen Moskaus ein Zentrum der "Feierlichkeiten" am 9. Mai werden. Die zentralen Straßen der Stadt würden derzeit "von Trümmern, Leichen und nicht explodierten Sprengkörpern gesäubert".
"Eine groß angelegte Propagandakampagne ist im Gange", erklärte der ukrainische Militärgeheimdienst weiter. "Den Russen sollen Geschichten über die 'Freude' der Einheimischen über das Zusammentreffen mit den Besatzern gezeigt werden." Am 9. Mai feiert Russland traditionell den Sieg über Nazi-Deutschland mit einer Militärparade und einer Rede von Kreml-Chef Putin auf dem Roten Platz in Moskau.
Evakuierte Zivilisten unter Schock
Mehr als 100 evakuierte Zivilisten hatten am Dienstag die ukrainische Großstadt Saporischschja erreicht. Laut dem lokalen katholischen Weihbischof Jan Sobilo stehen sie unter einem "furchtbaren Schock", wie Kathpress meldet. Sie seien "dem heute wahrscheinlich schrecklichsten Ort der Welt, Mariupol, entkommen". Dort habe man ein 12-jähriges Mädchen erhängt und vergewaltigt gefunden, so Sobilo. Sogar 10-jährige Buben und Mädchen seien massenhaft vergewaltigt worden. Praktisch bei jedem Haus und Wohnblock in Mariupol gebe es kleine Friedhöfe, auf denen Kriegsopfer begraben worden seien.
Luftangriff auf Theater von Mariupol: 600 tote Zivilisten
Unterdessen ergab eine Untersuchung der US-Nachrichtenagentur Associated Press, dass beim russischen Luftangriff auf das Theater von Mariupol Mitte März rund 600 Zivilisten ums Leben gekommen sind. Die Opferzahl sei damit mehr als doppelt so hoch wie bisher angenommen, meldet die ukrainische Agentur Ukrinform. Die Rekonstruktion erfolgte mit Augenzeugenberichten sowie Fotos und Videos. Dabei seien auch russische Angaben widerlegt worden, wonach das Theater von ukrainischen Soldaten zerstört worden sei oder diesen als Stützpunkt gedient habe.
Waffentransporte im Visier
Der russische Verteidigungsminister Schoigu drohte indes, dass auch Waffentransporte des Westens ins Visier genommen werde. Das russische Militär werde NATO-Waffentransporte in der Ukraine als legitime Angriffsziele betrachten, zitierte die Nachrichtenagentur RIA den Minister.
In einer am Mittwochabend vom Verteidigungsministerium verkündeten Tagesbilanz hieß es, dass 77 Luftangriffe auf die Ukraine durchgeführt worden seien. Dabei seien am Mittwoch bis zu 310 ukrainische Kämpfer getötet und 36 Einheiten Militärtechnik zerstört worden, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, Igor Konaschenkow. Zuvor hatte er davon gesprochen, dass Artillerieeinheiten rund 500 Ziele beschossen hätten. Auch mehrere Eisenbahnstationen sollen mit Langstreckenraketen beschossen worden. Damit sollten Waffen- und Munitionstransporte getroffen werden.
Schoigu sprach auch von weiteren Gebietsgewinnen in den ostukrainischen Separatistengebieten Luhansk und Donezk, nannte aber keine Details. Viele internationale Militärexperten sind der Auffassung, dass Russlands Offensive im Donbass seit Kriegsbeginn am 24. Februar nur recht schleppend vorankommt.
12 tote russische Generäle - auch dank US-Unterstützung
Die USA haben einem Zeitungsbericht zufolge mit nachrichtendienstlichen Erkenntnissen die Ukraine bei gezielten Anschlägen auf russische Generäle unterstützt. Die Regierung in Washington habe Einzelheiten über die erwarteten Truppenbewegungen sowie den Standort und Einzelheiten über Russlands mobile militärische Kommandoposten zur Verfügung gestellt, schreibt die "New York Times".
Die Ukraine habe die Informationen mit ihren eigenen kombiniert, um Angriffe durchzuführen, bei denen nach Angaben des Blattes etwa zwölf russische Offiziere getötet wurden. Das Pentagon und das Weiße Haus reagierten nicht sofort auf eine Bitte um Stellungnahme von Reuters.
Eisenbahnanlage in Dnipro getroffen
Von ukrainischer Seite hieß es am Mittwochabend, dass die Eisenbahnanlage in der strategisch bedeutenden Stadt Dnipro durch einen Raketenangriff getroffen worden sei. Neben Dnipro sei auch die Stadt Tscherkassy von russischem Beschuss betroffen. Die russischen Truppen würden auch weiterhin auf die Großstadt Charkiw schießen, wobei auch mehrere Brände ausgebrochen seien. Sie hätten aber alle schnell gelöscht werden können. Die Bewohner der Millionenstadt wurden aufgerufen. Luftalarme nicht zu ignorieren.
In der Umgebung der ukrainischen Hauptstadt Kiew werden auch mehr als einen Monat nach dem Abzug der russischen Truppen beinahe täglich weitere Leichen von Zivilisten gefunden. Bis Mittwoch seien insgesamt 1.235 ermordete Zivilisten entdeckt worden, teilte der Chef der Gebietsverwaltung, Olexander Pawljuk, am Mittwoch im Nachrichtendienst Telegram mit. Davon seien 282 immer noch nicht identifiziert. Erst am Dienstag seien 20 neue Todesopfer mit Folterspuren in Leichenhallen gebracht worden.
Der russische Angriffskrieg auf das Nachbarland dauert bereits seit Ende Februar. Große Teile nördlich und nordwestlich der Hauptstadt waren einen Monat lang von russischen Truppen besetzt. Der Fund von Leichen in Städten wie Butscha - einige der Toten hatten die Hände gefesselt - sorgte weltweit für Entsetzen. Moskau dementiert, dafür verantwortlich zu sein. Die Vereinten Nationen beziffern nach mehr als zwei Monaten Krieg die Gesamtzahl der getöteten Zivilisten auf zumindest 3.200. Sie gehen aber von einer weitaus höheren Dunkelziffer aus.
Russische Truppen in Kaliningrad simulierten Atomangriff
Die russischen Truppen in Kaliningrad haben indes nach Angaben aus Moskau mitten der Offensive in der Ukraine Angriffe mit nuklearwaffenfähigen Raketen simuliert. Bei einer Übung hätten rund hundert Soldaten den "elektronischen Start" von mobilen ballistischen Raketensystemen mit Atomwaffen vom Typ Iskander simuliert, so das Verteidigungsministerium am Mittwoch. Die Streitkräfte übten Angriffe auf militärische Ziele eines imaginären Feinds sowie die Reaktion auf einen Gegenschlag.
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