Wenn man die Stadt hinter sich lässt, sagt Mascha, dann sieht man sie. Die verbrannten Panzer, die toten Menschen. „Hände und Füße, abgetrennt. Und man versucht, nicht darauf zu achten.“
Mascha, 20 Jahre alt, blondes langes Haar, lebt in Dnipro. Eigentlich. Denn vor Kriegsbeginn hat die Studentin, die ihren echten Namen lieber nicht sagen will, ihre Mutter besucht, in Melitopol im Süden der Ukraine. Und war danach für zwei Monate in einer der wenigen Städte gefangen, die die Russen vom ersten Moment des Krieges an besetzt hielten.
„Wenn man in Melitopol ist, versteht man nicht, was im Rest des Landes passiert“, sagt sie heute, nach ihrer Flucht, in sicherer Entfernung. Alles sei abgeriegelt, der Krieg finde nur außerhalb statt. Die 150.000-Einwohner-Stadt selbst sei von allen Spuren des Krieges „gesäubert“ worden. Und nicht nur das: Die Besatzer haben nicht nur den Bürgermeister vertrieben und und durch eine moskautreue Verwaltungsbeamte ersetzt, den Rubel eingeführt und die Supermärkte umbenannt, sondern die Stadt auch optisch völlig umgekrempelt. „Sie stellen sowjetische Denkmäler auf, etwa für Lenin. Und überall hängen jetzt Sowjetfahnen“, sagt Mascha. Für die 20-Jährige ist das Ganze doppelt absurd: Sie fühlt sich als Ukrainerin, und die Sowjetzeit kennt sie ausschließlich aus dem Geschichtsunterricht.
Vor dieser Parallelwelt ist sie jetzt auf eigene Faust geflohen, mit ihrer Mutter und den Großeltern, im Auto und im Wissen, „jederzeit erschossen oder von einer Rakete getroffen werden zu können“. 13 Checkpoints mussten sie passieren, 13 Mal Augenkontakt vermeiden, 13 Mal hatte sie nichts als Angst, sagt sie jetzt. „An jeder Tankstelle saßen Scharfschützen, die auf uns zielten. Schmuck, Wertsachen und Papiere hatten wir in der Unterwäsche versteckt, Zigaretten und Alkohol als Bestechung dabei.“ Die Handys hatten sie von allem befreit, was Konsequenzen nach sich ziehen könnte: Chats über die Ukraine, über den Krieg. „Wenn sie etwas Verdächtiges finden, erschießen sie einen. Auf der Stelle“, sagt Mascha.
Auf der Flucht sei ihr bewusst geworden, wie sehr der Krieg das Land verändert habe. Sie seien an Dörfern vorbeigekommen, die dem Erdboden gleichgemacht worden sind. „Dort war kein Mensch mehr. Nur Krater von den Bomben.“ Überlebende und das Militär dort hätten sie gewarnt, das Handy zu benutzen; die Russen würden das orten. „Tags zuvor haben zwei Mädchen ihre Verwandten angerufen, kurz danach schlug genau dort eine Rakete ein. Sie hat alle getötet“, sagt Mascha.
„Keine Proteste mehr“
In Melitopol kennt man diese Realität nur aus dem spärlich zugänglichen Internet. Das Fernsehen ist bereits russisch, und Mascha hat Angst, dass auch der letzte Rest von Normalität ersetzt wird: Dass die Russen das Internet ganz übernehmen, dass alle ukrainischen Quellen verboten werden. Dann würde die allgegenwärtige Propaganda verfangen: Zwar seien die meisten, die noch in der Stadt sind, auf der ukrainischen Seite. „Aber es gibt – wie überall – auch jene, denen alles egal ist, die sich nie für Politik interessiert haben. Sie verstehen noch nicht, was es bedeutet, unter einer anderen Flagge zu leben.“
Proteste, wie es sie zu Beginn der Besatzung gegeben hat, seien in Melitopol jetzt undenkbar, sagt Mascha. „Das wäre selbstmörderisch.“ Viele, die sich anfangs gewehrt hatten, seien verschleppt worden. „Ich kenne selbst Leute, die verschwunden sind. Ich habe keine Ahnung, wo sie sind, was sie mit ihnen machen.“ Zurückgekehrt sei nur ein Teil.
Hoffnung gebe ihr Widerstand anderer Art. „Partisanen“, sagt Mascha, Kämpfer im Untergrund. Dass sie die Russen an den Kontrollpunkten überfallen und Ausrüstung zerstören, sei weder ein Mythos noch Propaganda der ukrainischen Seite: „Die Russen selbst beklagen sich, dass sie nachts angegriffen und Kollegen getötet werden.“ Die russischen Soldaten setze das unter Druck. „Sie haben nicht das Gefühl, dass sie auf eigenem Boden sind. Wenn man unzählige Menschen getötet hat, fängt man an, sich umzusehen. Man könnte ja selbst der Nächste sein.“
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