Das Gespräch der zwei Soldaten werde sie nie vergessen, sagt Marija, sie sieht starr in die Kamera. „Was er mit den Ukrainern gemacht hat, die das ,Aussieben’ nicht bestanden hätten, hat der eine gefragt. Der antwortete: ,Zehn habe ich erschossen. Weiter habe ich nicht gezählt, es hat mich nicht interessiert.“
Marija, 17 Jahre alt, blonde Haare, hat ihr Geschichte Nastojaschtschee Wremja erzählt, einem verbotenen russischen Investigativmedium. Sie ist eine von Tausenden, die aus der Ukraine Richtung Westen fliehen wollten, dabei in ein Aussiebe-Lager kam. Ein Checkpoint, an dem die Besatzer die Fliehenden teils tagelang aufhalten, einsperren und befragen – oder, wie Marijas Vater, foltern und bewusstlos schlagen.
Marija Wdowytschenko und ihre Familie hatten Glück. Sie schafften es aus dem Lager nahe Mariupol auf ukrainisches Territorium, erzählt sie; ebenso wie viele andere Geflüchtete, deren Geschichten ähnlich klingen.
Was man nicht hört, sind die Geschichten jener Männer, Frauen und Kinder, die das „Aussieben“ nicht bestanden haben. Die als „ukrainische Nazis“ punziert wurden, weil sie etwa Chatnachrichten von Journalisten oder ukrainischen Militärs nicht vom Handy gelöscht haben. Sie – das bestätigt mittlerweile auch die OSZE – landen entweder in Folterkellern im Donbass oder werden nach Russland deportiert.
„Freiwillige“ Flucht
Bis zu eine Million Menschen, darunter 200.000 Kinder, sind seit Kriegsbeginn Richtung Osten gebracht worden. „Freiwillig“, wie Moskau mittlerweile sagt. Lange hat der Kreml Berichte über die Tausenden Deportierten unkommentiert gelassen, jetzt erzählt man die Geschichte anders: Die Menschen seien „vor den Gräueltaten der Ukrainer“ geflohen, liest man in Kreml-treuen Zeitungen.
Auch die Existenz der Aussiebe-Camps wird nicht verhehlt. Sie sollen verhindern, dass „ukrainische Nationalisten Russland infiltrieren“, heißt es. Das ist ein Konzept, mit dem Russland Erfahrung hat – nach dem Zweiten Weltkrieg wurden solche Lager für Rotarmisten errichtet, die in deutscher Kriegsgefangenschaft waren. Man vermutete unter ihnen Kollaborateure, 280.000 landeten im Gulag. Auch in den Tschetschenienkriegen gab es dieses „Aussieben“ im großen Stil.
Zwangsadoption?
Was mit den Menschen passiert, die nach Russland gebracht werden, ist jedoch schwer nachzuvollziehen. Kiew behauptet, die 200.000 verschleppten Kinder sollen zur Adoption freigegeben werden; die Duma bereite dafür sogar ein eigenes Gesetz vor, sagt Ljudmila Denisowa, Menschenrechtsbeauftragten des Parlaments. Besonders perfide sei, dass es sich um Kinder handle, deren Eltern von russischen Soldaten getötet worden seien, sagte sie – ihre Adoption wäre eine Verletzung internationalen Rechts.
Bei den Erwachsenen ist die Informationslage ähnlich düster. Denisowa weiß von Deportieren, denen die Pässe abgenommen wurden, das verunmöglicht eine Ausreise aus Russland. Verwandte berichten, dass sie zum Teil in Umerziehungslagern seien, wo sie sich tagelang Propagandavideos ansehen müssten. Kommunikation ist aber kaum möglich – viele Menschen tauchen einfach nie wieder auf.
Marija jedenfalls ist froh, das „Aussieben“ überstanden zu haben. Mit fünf Soldaten sei sie allein in einem Raum gewesen, sagt sie, einer sei auf einer Matratze gelegen. Er habe zu den anderen gesagt: „Die gefällt mir nicht. Draußen sind noch andere Frauen, findet mir eine.“ Sie sieht noch immer starr in die Kamera.
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